Ein kleiner Geburtstagsgruß.

 

 

Ich saß am Tisch. Vor mir lag der Heimatkurier des Kreises Rosenberg. Blätternd las ich die Namen der Riesenburger Jubilare, dachte, wen könnte meine Großmutter, meine Mutter gekannt haben, und wer sie.

 

Nur wenige gibt es noch im Jahrgang meiner Mutter, geboren im Jahre 1914, oder danach. Sie, die gerne den Heimatkurier las und auf Namenssuche war, lebt nicht mehr, aber ihre Geschichten, verbunden mit ihrem Namen, leben noch in mir.

 

Der Heimatkurier brachte ein Stück Freude ins Haus, auch durch abgesendete und empfangene Geburtstagsgrüße. „Ein Telefonat ist so schnell vorbei, einen Brief kann man mehrfach in die Hand nehmen. An ihm hat man mehrfach Freude”, sagte sie. „Es ist so leicht, jemandem eine Freude zu bereiten.”

 

In der Tradition meiner Mutter, auch des Heimatfreundes Horst Halb, las ich also die Namen der Jubilare, um ihnen unbekannterweise einen Gruß zu senden, ohne eine Antwort zu erwarten, nur so, in der Hoffnung, etwas Freude bereiten zu können.

Mein Blick fiel auf den Namen „Wella Kohn, geb. Lenz”. Wella, so ein seltener, mir unbekannter Vorname, erregte meine besondere Aufmerksamkeit...

 

 

Einige Zeit später hielt ich erstaunt einen liebevoll und in schönster Schrift geschriebenen Antwortbrief in den Händen, darin den Satz: „ Ich lernte bei Schick & Co.!” Schick & Co.? Meine Tante Hedwig Freitag, geb. Jahnke, war Verkäuferin bei Schick & Co. Ich fragte bei Frau Kohn an, ob sie sich an meine Tante erinnern könne. Ihre Antwort kam recht bald, dazu ein Foto. Frau Kohn schrieb: „Natürlich kannte ich ihre Tante Hedwig Freitag. Sie war eine liebevolle junge Frau, die uns Lehrlinge wie Kolleginnen behandelte. Sie schenkte mir das beiliegende Bild, „...für das Sie noch länger Zeit haben als ich ”...

Frau Kohn erkundigte sich, ob die Tante und auch der Onkel den Krieg gut überstanden hätten.

Sofort rief ich meine Tante in Oberhausen an, auch sie erinnerte sich an ihre Kollegin. Zu meiner Überraschung sagte sie: „Ja, das Foto kenne ich. Es war ein braunes Taftkleid, mit rosa Klappen. Ich habe es selbst genäht. Es mag so 1942 gewesen sein, als wir die Bilder tauschten. Die Wella war ein nettes, höfliches und williges Mädchen. Sie hatte eine gute Lebensführung, sie war in Ordnung. Wie geht es ihr? Auch ich habe ein Foto von ihr.”

Wenige Tage später schickte sie mir das einst von ihrer Kollegin überreichte Foto zur Ansicht. Meine Tante hatte alles noch genau in Erinnerung: „ Wella trug ein dunkelblaues Kleid mit roter Perlenstickerei, genäht von ihrer Schwester,” erzählte sie mir am Telefon. Dieses Gedächtnis verblüffte mich. Das Foto trug das Datum: 1.03. 1942 und den Vermerk: „Zur Erinnerung an Ihre Wella.”

 

 

Zwei ehemalige Kolleginnen tauschten vor 68 Jahren ihre Fotos aus, bewahrten sie vor den Wirren des Krieges und danach, dachten aneinander, und hörten doch 65 Jahre nichts voneinander.

 

Ein kleiner Geburtstagsgruß, von einem ein Jahr später im Städtchen geborenen Kind, führte dazu, dass sie wieder von einander erfuhren. Die schönste Nachricht war, dass Beide den Krieg überlebten, noch leben und sich nun wiedergefunden haben. Alles ausgelöst durch eine kleine Geburtstagsanzeige im Heimatkurier des Kreises Rosenberg.                                                                         

 

 

Ein kleiner Geburtstagsgruß im Heimatkurier des Kreises Rosenberg führte dazu, dass sich zwei Riesenburger Kolleginnen, damals angestellt im Konfektionsgeschäft „Schick & Co.”, nach über 60 Jahren wieder fanden.

 

Jede hatte noch Fotos der anderen. Wie war das nach den Wirren des Krieges möglich? Sie antworteten mir per Brief oder Telefon.

 

Ihre Gedanken schweiften zurück nach Riesenburg zur Zeit des 3. Reiches. Die Reichskristallnacht ging auch am Städtchen nicht vorbei. Auch die jüdische Familie Becker, Besitzer des Konfektionsgeschäftes am Markt, mit etwa 20 Angestellten, die Schneiderei inbegriffen, verließ notgedrungen ihre Heimatstadt. Sie hoffte in Berlin vorübergehend in Sicherheit zu sein, bzw. von dort in Sicherheit zu kommen.

 

 

Riesenburg, Westseite des Marktplatzes mit den Geschäften,

von links: Adler Apotheke, Inh. Rösner, Glaserei und Ansichtskarten Arthur Stabenau,
Konfitüren Frl. Rodermund, Hut- und Mützengeschäft Gustav Babst,

Textilien D. Becker/Schick & Co.
Aus dem Buch von Werner Zebrowski: „Erinnerungen an Riesenburg”

 

Das Geschäft wurde von den Angestellten unter der Bezeichnung „Schick & Co” weitergeführt. Unter diesem Namen wird es wohl den meisten Riesenburgern noch bekannt sein. Herr Schick, Mitte 40, war einst als Verkäufer angestellt, so die Aussage von Hedwig Freitag, geb. Jahnke.

 

Die Beschäftigten hielten zusammen, bedachten sich auch zu besonderen Anlässen mit kleinen Geschenken, halfen einander. So erinnert sich Wella Kohn, geb. Lenz noch heute an ein liebevoll überreichtes Buch mit dem Titel: „Christine von Schweden”. Sie bekam es von Hedwig Freitag und Erna Wulf, geb. Rebelski.

 

Der Fortgang des Krieges machte sich auch beim Personal bemerkbar. Nicht nur Männer, auch die Frauen erhielten eine Einberufung. Zu ihnen gehörten Wella Lenz und Hedwig Freitag.

 

Während es Herrn Schick gelang glaubhaft zu machen, dass u. a. Hedwig Freitag im Geschäft unabkömmlich sei, musste die fünf Jahre jüngere Wella Lenz ihren Dienst antreten.

 

Im Gepäck zum Arbeitsdienst befand sich eine kleine Blechschachtel, darin Fotos von ihr liebgewordenen Menschen, auch das Foto von Hedwig Freitag. Im Oktober 1943 war sie in Gotenhafen (Gdingen) eingesetzt. Die Blechschachtel immer dabei. Es kamen auch neue Fotos hinzu, so ein Bild von der Hochzeit ihrer Schwester.

 

Wella Lenz erlebte wie grauenvoll der Krieg war, auch wenn sie jedes Wochenende nach Hause, in die Ackerstraße 4, fahren konnte. Sie bekam die Realität des Krieges zu spüren und schreibt heute, dass sie es dennoch relativ „gut” getroffen hat, da für sie gesorgt wurde. In all der Not eine positiv denkende junge Frau. Das gab ihr wohl auch die Stärke alles gut zu verkraften.

 

 

Hedwig Freitag hatte mehr Glück. Obwohl sie schon zur ärztlichen Untersuchung war, durfte sie im Geschäft weiter arbeiten.

 

Es war Sonnabend, der 20. Januar 1945, zur Mittagszeit zwischen 12 und 13 Uhr. Sie hatte gerade Mittagspause als die Sirenen dröhnten. „Es wird ein Fliegeralarm sein”, sagte sie. Doch Herr Schick antwortete: „Nein, es ist der Räumungsbefehl. Alle sollen sich am Bahnhof einfinden.”

 

Er selbst wollte mit einem Lastkraftwagen zur Schwester nach Bleicherode in den Harz und bot Hedwig Freitag die Mitfahrt an. Diese lehnte jedoch ab, da sie sich um ihre alten Eltern kümmern müsse. „Für drei Personen reicht der Platz nicht, aber ich kann ein Gepäckstück mitnehmen,” sagte Herr Schick. Er schickte den Laufburschen Willi zum Haus: Am Kohlenberg 1. Dieser holte den Koffer, darin u.a. ein Fotoalbum. Herr Schick packte Stoffe hinzu und gab ihr seine angedachte Adresse.

 

Sie selbst erlebte die Flucht mit all ihrer Dramatik. Als sie in Pommern war, schrieb sie kurz an Herrn Schick, in der Hoffnung, dass er und auch der Brief das angedachte Ziel erreichen würde. Sie teilte ihm kurz mit, dass sie nun vorübergehend dort bleiben könnte. Aber es war ein Lebenszeichen. Ihr Mann, der ebenfalls Herr Schicks Adresse kannte, von wem weiß sie nicht, erfuhr so, dass sie lebte. Später fand sie ihn über den Suchdienst wieder. Auch ihre Eltern hatten den Krieg überlebt. Oberhausen, wo sein Bruder lebte, wurde zur neuen Heimatstadt.

 

Den Kofferinhalt schickte ihr Herr Schick in 2-Kilo-Paketen zu, so auch das Fotoalbum und die eingepackten Stoffe. Diese konnte sie gut für ihre Umstandsgarderobe gebrauchen. Leider verstarb der kleine Sohn nach wenigen Wochen. Er, wie viele Kinder, wurde Opfer der Hungerzeit. Es war ein schwerer Schlag für das Ehepaar. – Hedwig Freitag schickte ihrerseits kleine Päckchen mit Kaffee und anderen Sachen an Herrn Schick. Oft nahm sie das Album zur Hand, fragte sich wie es diesem oder jenem ergangen sein mag. So gingen ihre Gedanken auch zu Wella Lenz. Auch Wellas Gedanken gingen in diesen Jahren zu Hedwig Freitag. ...

 

Dann, nach mehr als 60 Jahren, führte eine kleine Geburtstagsanzeige sie wieder zusammen. Die Freude auf beiden Seiten war groß. Es war wie ein kleines Wunder. Heute sind beide noch „fit wie ein Turnschuh”, die eine 92 Jahre, die andere 87 Jahre. Sie können sich noch voll des „Wiederfindens” erfreuen.

 

Wella Kohn liest nach wie vor sehr viel, schreibt auch gerne. Ihre Briefe sind interessant und voller Gedanken. Sie hat eine nette, herzliche und natürliche Schreibweise. So stelle ich mir ihr ganzes Wesen vor.

Hedwig Freitag fällt das Schreiben schon schwer, aber sie telefoniert gerne. Meine Tante ist jetzt meine „Quelle” in Sachen Heimatgeschichte, zumal unser Heimatfreund Werner Zebrowski nicht mehr unter uns weilt.

Das Alter fordert aber dennoch Tribut. Hedwig Freitag wohnt in Oberhausen, Wella Kohn in Kiel. Beiden fällt das Reisen nicht mehr so leicht. Dennoch freuen sich beide über das Wissen voneinander. Ob es ein Wiedersehen geben wird? Man sollte nie „nie” sagen. Obwohl, das Wissen voneinander

und das Lesen der eingegangenen Zeilen, ist schon Freude alleine.

 

Wella Kohn, Hedwig Freitag; diese Zeilen dokumentieren zwei kurze Lebensgeschichten, verbunden mit denen zweier Fotos. Eigentlich nichts Besonderes kann man denken. Und doch, sie zeigen den Zusammenhalt der Menschen im Städtchen zur damaligen Zeit. Nur durch diesen Zusammenhalt konnten Menschen überleben, liebevolle Dinge gerettet werden, so die Fotos. Ich denke dabei auch an den Koffer von Frau Zebrowski. Sein Inhalt bildete später den Grundstein für die wertvolle Sammlung ihres Sohnes Werner, uns allen zum Nutzen.

 

Zur heutigen Selbsthilfe tragen der Heimatkurier und die Westpreußenzeitung bei. Sie helfen bei der Spurensuche. So wie die beiden Frauen sich fanden, so fand auch, unter anderem, einst meine Mutti Hedwig Bendig, geb. Freitag, über eine Geburtstagsanzeige liebe Menschen wieder, u. a. Bärbel Wadda, als Nachbarin. Mit wiedergefunden Freunden und Bekannten hatte sie die Gelegenheit, wie jetzt die beiden Frauen, mit jemandem über die Heimat oder davon zu sprechen, sich auszutauschen. Das tat und tut gut.

So freute sich Hedwig Freitag, als sie in der Westpreußenzeitung las, dass es der jüdischen Familie Becker gelang, in Amerika erfolgreich einen Neubeginn zu starten. Sie hat Unverständnis für den damaligen Zeitgeist, waren die jüdischen Geschäftsleute doch auch Bürger der Stadt, dort geboren, hatten im 1. Weltkrieg für Deutschland gekämpft, trugen zu Feierlichkeiten genauso stolz ihre Auszeichnungen wie die anderen Soldaten. Wie es den anderen Familien des Geschäftes erging, weiß sie nicht. Aber das Wissen um jeden Überlebenden, gleich welcher Glaubensrichtung, bringt etwas Ruhe und Freude in ihre Gedankenwelt.

Wella Kohn, Hedwig Freitag und all die Vertreter der Erlebnisgeneration, sie werden noch gebraucht, gebraucht um unser Wissen zu erweitern. Diese Generation braucht aber auch die jüngere Generation mit ihrem technischen Wissen, um diesen oder jenen „ausfindig” zu machen. So sollten wir es halten. Gegenseitige Hilfe war einst lebensrettend. Sie hat auch heute nicht an Bedeutung verloren.

 

Edelgard Hesse

Crivitz