Schule bis zum letzten Tag - eine Tagebuchaufzeichnung

vom 19. und 20. Januar 1945.

von Ruth Bräuer

Bearbeitung: G. Templin u. C. Mühleisen


19.01.1945: Am Freitag morgens als ich zur Schule ging, liefen alle Menschen viel aufgeregter als sonst durch die Straßen. Wir störten uns aber nicht daran. Doch als wir in der Blücherstraße - Ecke Gröger waren, kamen die Kinder der Volksschule alle schon zurück und riefen uns von weitem zu: "In unserer Schule sind Verwundete, wir haben keinen Unterricht mehr!"



Lyzeum (G. Templin)

"Lotti Krüger und ich wollten gleich umkehren, aber wir wussten ja nicht, ob unsere Schule auch belegt war, also gingen wir weiter. In der Bahnhof- und Karl-Freyburger-Straße rollten laufend Soldatenautos in Richtung Rosenberg. Solch ein Betrieb war schon lange nicht mehr. Wir wussten wohl, dass in Deutsch-Eylau "Alarmstufe 2" gegeben war, also bestand doch schon Gefahr für unsere Heimat. Und als wir nun die vielen Autos von der Front kommen sahen, bekamen wir wohl einen schönen Schreck. Wir waren ziemlich bis zur Polizeitwache gekommen, als ich Vati traf. Er erzählte uns, dass der Russe schon bis Grodden war. Wir ärgerten uns. Sollten wir die Stellungen umsonst gebaut haben? Vier Monate Schule versäumt und alles umsonst? Nein, das durfte nicht sein!

In unserer Schule waren nur wenige Mädel. Die Osteroder (alle vom Schülerheim) fuhren schon morgens nach Hause. Von 47 Mädeln waren nur noch 16 da. Fräulein Dr. Kelm gab uns wenigen noch Deutschunterricht. Wir hörten wenig hin, denn wir waren alle schon viel zu aufgeregt. Die Jungens aus der Schule durften auch nach Hause, sie konnten sich anderswo nützlicher machen. Und wir sollten da ruhig sitzen und pauken? In der zweiten Stunde kamen Frl. Liedtke und Frl. Herrmann zu uns. Wir atmeten alle auf, als sie uns umständlich erklärten, unsere Schule müsse nun auch geschlossen werden, aber nur weil das Feldlazarett hier eingerichtet wird.



Oberschule für Jungen / Hindenburg-Gymnasium / (G. Templin)

Als Schulabschluss sangen wir den vierstimmigen Chor:

               "Deutschland, o heiliger Name, o süßer Klang,
             dich lieb' ich, preis' ich mein Leben lang.
             Wie schlägt mir voll Lust das Herz in der Brust,
             Deutschland, bei deinem Namen!"

Es war wie ein Trotz zu all dem, was uns geschah. Dann zogen wir los. Wir "Groddener Mädel" gaben uns noch einen Kuss, und es ging untergehakt los zur Stadtschule. Wir hatten nämlich einen Entschluss gefasst: Um uns auch nützlich zu machen, wie es uns auch unsere Biologielehrerin Frl. Pfeiffer getan hat, dem Roten Kreuz zur Verfügung zu stellen. Unterwegs waren wir lustig und fröhlich wie sonst. Aus Spaß sagte noch jemand: "Wenn der Russe noch herkommen sollte (der kommt aber bestimmt, so nahmen wir an), stellen wir uns auf die Straße als Panzerschreck." Alles lachte natürlich. So kamen wir mittlerweile auch ins Lazarett. Leider war da zu wenig Zeit, um uns auszubilden, aber am Montag sollten wir wiederkommen. Arbeit gäbe es für uns genug. Wir waren recht froh darüber.

Als ich nach Hause kam, war Frau Langner mit Lieselotte bei uns. Sie sahen recht müde aus, weil sie die ganze Nacht gepackt hatten. Ferner waren noch Frau Dickert und Frl. Woywodt bei uns. Mutti selbst packte auch eifrig. Alle waren sehr aufgeregt, aber Gott sei Dank zogen sie bald los. Unser Mittag aßen wir noch in großer Ruhe. Der Papa war, wie in den letzten Tagen schon, nicht rechtzeitig zum Essen gekommen. Er musste Teg und Nacht auf der Polizeiwache ein. Am Nachmittag gingen wir noch einkaufen. Mutti wollte noch Geld von der Bank holen, aber leider war sie nach 17 Uhr schon zu. Unterwegs trafen wir Frau Sobottka. Sie bat uns, doch mal zu ihr zu kommen. Wir sollten ihr helfen, die notwendigen Sachen für die Kinder einzupacken. Sie selbst war in der Aufregung zu nichts fähig. Wir versprachen dann auch, am Sonnabend oder spätestens am Sonntag zu kommen. Dann trennten wir uns. Wir gingen schon um 21 Uhr schlafen, ganz ohne Sorgen und in großer Ruhe.

20. Januar 1945: Plötzlich, es war am Sonnabend morgens um 1 Uhr, klopfte jemand scharf ans Schlafzimmerfenster. Auf Muttis Frage, wer da sei, rief Ursel nur: "Langner, schnell aufmachen!" Mutti lief noch im Nachthemd zur Tür und war neugierig, was denn los sei. Ursel erzählte ganz kurz, dass unser Papa angerufen hätte: 60 russische Panzer sind vor Deutsch-Eylau - alles auf dem schnellsten Wege raus! Und schon war Ursel wieder weg. Ich sprang wie ein geölter Blitz aus dem Bett, und dann zogen wir uns alles das an, was wir am Tage zuvor überlegt hatten. Es ging in einem Ruck und fertig waren wir! Mutti lief noch zu unseren Nachbarn und erzählte, was sie gehört hatte. Ich packte in der Zeit noch die nötigen Esswaren in unseren Rucksack, holte den kleinen Handschlitten raus und packte unser zurechtgelegtes Gepäck rauf. Mutti aß noch in aller Ruhe etwas.

Auf einmal war unser Haus voll. Wenn etwas los war, dann kamen alle zu uns, um zu sehen, was wir jetzt wohl machen. Also erschienen Herr Woywodt, Frau Dickert, Herr Goher und wieder Ursel Rast: "Wir haben keine Angst, wir bleiben hier!" Am liebsten hätt ich es ja auch getan, aber - was der Papa sagte, war für mich maßgebend. Viele Menschen kamen schon die Lönsstraße entlang und riefen: "Alles im Fußmarsch Richtung Rosenberg!" Mutti und ich beschlossen aber, dieses nicht zu tun; denn 1. war es ganz dunkel und 2. wenn russische Panzer durchstoßen, dann doch nur auf der Hauptstraße, gerade dort, wo wir hin sollten.




Flucht (G. Templin)

Immer mehr Menschen kamen. Auf unsere Frage, wohin sie gingen, sagten einige, dass auf dem Hauptbahnhof Transporte bereit stehen. Wir wollten nun auch zum Bahnhof. Ich lief noch zu Langners, doch alles war dort schon einsam und verlassen. Nun aber schnell zurück. - Da ich die neuen Stiefel meines Freundes Dietrich anhatte, glitschte ich immer wieder aus, also ging es nicht ganz so schnell wie gewünscht. Frau Strehlke und Frau Willermowski waren auch abmarschbereit, sie kamen mit uns mit. Ich rannte noch zu Herrn Gother rauf und sagte, dass wir jetzt losziehen wollten. Er wollte bleiben und unser Haus beschützen, sagte er nur. Das Wetter war einigermaßen schön. Unser Schlitten kippte einmal an der Ecke Löns- und Steinstraße um. Wir ärgerten uns, aber was war zu machen, nur weiter.

Am Bahnhof war ein Betrieb, wie nie dagewesen. In dem Gedränge verloren wir noch Strehlkes. Wir standen nun an der Rampe und warteten - aber kein Zug kam. Wir wurden ungeduldig. Schließlich fragte ich einen Soldaten, wann und wo der Transport kommen sollte. Er nannte mir den Bahnsteig und mit viel Geschimpfe, das Gepäck war ja nicht leicht, zogen wir zu dem Bahnsteig, immer über die Gleise. Ein Güterzug stand dort. Wir wollten auch einsteigen, aber die Beamten erlaubten es uns nicht. Der Zug sollte nur für Eisenbahnerfamilien sein, wurde uns gesagt und außerdem sei er schon voll. Was sollten wir machen? Eine heilige Wut hatte ich. Der Morgen kam schon, wir standen etwa 4 Stunden und immer noch erfolglos. Ich lief nun rum und hörte, auf welchen Bahnsteigen noch Züge fahren sollten. So traf ich noch Strehlkes wieder und wir zogen zusammen auf Bahnsteig 2. Endlich kam ein Personenzug, aber im Nu war auch da kein Platz mehr. Also blieben wir weiter stehen und harrten der Dinge, die da kommen sollten. Ursel Schmiel und Horst Schulz traf ich noch. Lissens gingen noch nach Hause, das Warten wurde ihnen zu lang. Frau Urlaub und Frau Schachts Jungens gesellten sich noch zu uns. Wir unterhielten uns sehr angeregt; dabei vergaßen wir bald, dass wir flüchten wollten. Aber allmählich froren wir. Das war nicht zu verdenken, wenn wir bei minus 20 Grad schon sieben Stunden auf einen Zug warten mussten.

Der Tag wurde klar und frostig. Endlich, endlich kam der schon lange erwartete Zug. Vor uns die Abteile waren natürlich alle wieder besetzt, hinten sollte noch frei sein; wir also an das Ende des Zuges. Einige Soldaten fassten gleich unser Gepäck und ehe wir uns versahen, war alles verstaut. Frau Strehlke, die nach Hause gelaufen war und noch einige Sachen mitgebracht hatte, brachte auch unsern Papa mit. Wir waren glücklich, dass er noch einmal kam. Er brachte meine Aktentasche voll Esswaren mit, eine Flasche heißen Kaffee und fünf gekochte Eier. Papa half Frau Wormeck noch in den Zug, dann blieben uns noch wenige Minuten. Um 10.30 Uhr ging unser Transport los.

Wir dachten gar nicht daran, weit zu fahren, am liebsten wollten wir in Marienburg schon aussteigen. Nun namen wir Abschied von unserem schönen Deutsch- Eylau, unserer schönen Kirche am See, das uns doch alles so vertraut war.



Deutschordenskirche (G. Templin)

Na, wir hofften, doch spätestens in ein zwei Monaten zurück zu kommen. Unser Zug stand überall auf freier Strecke und auf jeder Bahnstation, hauptsächlich in Sommerau und Charlottenwerder stiegen noch Menschen zu. Es wurde sehr eng. In Riesenburg war gerade Fliegeralarm. So fuhren wir die Strecke, für die man sonst zwei Stunden braucht, runde elf Stunden. Es war furchtbar! Um 22 Uhr fuhren wir über die Weichselbrücke in Dirschau. Unser Ziel sollte Preußisch Stargard sein. Wir fuhren ins Ungewisse.

Anmerkung: Frau Ruth Duscha, geborene Bräuer, war vor der Flucht Schülerin der Oberschule f. Mädchen (10. Klasse). Da das Lyzeum schon einige Jahre Lazarett  war, hatten die jungen Mädchen Schichtunterricht in der Oberschule f. Jungen (Hindenburg-Gymnasium). Der Vater von Ruth wr Polizeibeamter in Deutsch-Eylau. Die beiden Geschwister Manfred und Silvia befanden sich zu der Zeit in einem Kindererholungsheim. Frau Bräuer ging mit ihrer Tochter alleine auf die Flucht, die fast zwei Monate dauerte, bis sie in Ostfriesland eine neue Bleibe fanden. Die heutige Anschrift: Ruth Duscha, 7530 Pforzheim, Mittlere-Stöckstraße 29.

Lieber Leser, Sie haben die große Flucht erlebt oder viel darüber erfahren. Ich fand dieses Tagebuch von 26 Seiten so interessant, weil dieses große Ereignis gerade aus der Sicht eines jungen Menschen geschildert wird - teilweise ganz unbekümmert, klar und deutlich.

Die Mädchen aus der 10. Klasse waren kurz vor Weihnachten 1944 von einem viermonatigen Kriegseinsatz aus Grodden zuückgekehrt, um ihre Klassenarbeiten zu schreiben. In Grodden waren im Kriegseinsatz zusammen: Ruth Bräuer, Ellen Landmesser, Leni Wolf, Ursel Schmiel, Rosemarie Kröger, Ursel Kairat, Lotti Krüger, Gertraud Krüger, Gerlinde Schulz und Lotti Kloß (diese junge Dame gehörte nicht zur 10. Klasse). Sonst waren alle am letzten Schultag dabei.

G. Templin

Das Nutzungsrecht der Urheberrechte an den Bildern und Aufzeichnungen von Herrn Gerhard Templin wurde an Frau Christa Mühleisen übertragen.