Die Altstadt von Deutsch Eylau

Gerhard Templin

Bearbeitung C. Mühleisen

Nach Aufzeichnungen des damaligen Rektors Ernst Morgenroth, Leiter der Stadtschule in Deutsch Eylau (vom 01.12.1918 - 15.03.1935), danach Schulrat in Fischhausen, Samland Ostpreußen.

Nach dem Tode von Frau Ingeborg Morgenroth, Tochter des Rektors Morgenroth, erhielt ich sämtliche Rechte zur Veröffentlichung vom Nachlassgericht Hamburg. Ich habe schon etliche Aufzeichnungen aufgearbeitet und veröffentlicht. Heute will ich über die Altstadt von Deutsch Eylau schreiben. Obwohl Herr Rektor Morgenroth kein Deutsch Eylauer war (kam aus Ostpreußen), hatte er eine ausgezeichnete Kenntnis der Geschichte der Stadt "Eylau", wie er immer sagte. Als Pädagoge und Mensch war er gleichermaßen beliebt. Übrigens war die Stadtschule "seine Schule" - die Schule in Deutsch Eylau.

Die Altstadt Deutsch Eylau ist 1945/46 bis auf wenige Reste zerstört worden, darum ist es wohl angebracht, hier ihrer zu gedenken. Das Gebiet der Fischerei Straße, kurz "Fischerei" genannt, bildete den ältesten Stadtteil. Die Geschichte reicht weit in die Vorzeit zurück. Wie zahlreiche Gräberfunde bewiesen, war dieses Gebiet schon 2000 bis 3000 Jahre vor der Ritterzeit - Beginn 1230 - besiedelt. Wahrscheinlich reicht hier die Besiedlung noch weiter zurück, bis in die Steinzeit. Dieses ist leicht zu erklären, weil hier an dem Ausfluss der Eylenz aus dem großen Geserichsee der Fischreichtum des Wassers besonders hoch war. Neben den Standfischen gab es hier noch die Fischzüge, die alljährlich auf ihren Wegen zu den Laichplätzen vorbeikamen. Oft waren sie so dicht, dass die Eylenz von ihnen direkt verstopft wurde. Besonders handelt es sich um Lachszüge, wie man sie heute in diesem Ausmaß nur noch in Nord-Kanada und in Sibirien findet.

Fische bildeten die Hauptnahrung des vorgeschichtlichen Menschen. Von einem wirklichen Ackerbau war keine Rede. Als pflanzliche Nahrung dienten vorwiegend Sammelfrüchte und Wildgemüse. Die Jagd brachte recht unterschiedliche Erträge. Ja, es gab Zeiten, in denen die riesigen Wälder rings um den Geserichsee direkt wildleer waren. Die Jagdtiere, besonders das Großwild: Elche, Auerochsen und Wisente machten weite Wanderungen, waren immer auf Nahrungssuche.

Infolge des Fischreichtums war die Besiedlung am Geserichsee verhältnismäßig recht dicht. Unter den Gräberfunden fand man sowohl solche aus den Zeiten der Grabbestattung, als auch solche aus der Zeit der Feuerbestattung in Form der Urnengräber. Im Gebiet meines Gartens, Bismarckstr.1, lag ein solches Urnenfeld. Viele Urnen waren zerstört. Viele Grabstätten deckte man beim Bau der Rosenberger Chaussee auf. Sie waren nachher die Ursache für allerlei gruselige Geschichten, die man vom "Roten Krug" erzählte.

Am polnischen Tor begann die eigentliche mächtige Stadtmauer und zog sich in einem weiten Bogen an der Fischerei, die außerhalb liegenblieb, vorbei zum Riesenburger Tor. Es lag im Gebiet der heutigen Riesenburger Straße, etwa dort, wo ein schmaler Gang, vom Marktplatz aus gesehen, rechts abzweigte. Dieser Gang ist ein Rest der alten Mauerstraße. Auf den Höfen der hier gelegenen Grundstücke, sah man noch Reste der alten Stadtmauer, die es auch noch heute gibt.



Das Riesenburger Tor mit Gefängnis im Mittelalter (G. Templin)




Kurierreiter im Mittelalter (G. Templin)

Vom Riesenburger Tor führte sie dann wieder im weiten Bogen am kleinen Geserich-See entlang zur Kirche. Innerhalb der Mauer zog sich eine anfangs recht breite Mauerstraße rings um die Stadt. (Für Verteidigungszwecke baute der Ritterorden in anderen Städten diese Straßen an der Mauer.) Nur noch eine kurze Seitenstraße führte den Namen Mauerstraße. Als die Einwohnerzahl durch Nachwuchs und Zuzug stieg, ging man dazu über, kleine, meist recht armselig anmutende Häuschen unmittelbar an der Stadtmauer zu bauen, wodurch die Straße bis auf einen schmalen Durchgang verengt wurde. Wenn ich mir das Bild dieser engen Gassen vorstelle, muss ich immer an die winzigen Goldmacher-Häuschen in Prag denken, die sich auch auf den engsten Raum beschränken. Allerdings so schmuck wie dort sah die Mauergasse nicht aus. Es waren recht baufällige, dürftige Buden.

Dass die Plapperstraße diesen recht ungewöhnlichen Namen erhielt, ist ein Ausdruck des Volkswitzes und zeigt, dass der Humor in der kleinen Stadt zu Hause war. Die Bewohner dieser Straße verfügten sicher auch über eine ansehnliche Begabung für das Klatschen, wie ja überhaupt in allen Kleinstädten dieses Klatschen in hoher Blüte stand und gewiss auch heute noch steht. Nach meiner Ansicht ist es durchaus gar nicht so eine verwerfliche Erscheinung, wie man sie immer hinzustellen versucht. Der Klatsch ist doch auch der Ausdruck einer gewissen Anteilnahme an dem Geschick des Nachbarn. Wenn die Menschen erst kalt und gleichgültig aneinander vorübergehen, dann bleibt von dem anmutigen Rest des Kleinstadtlebens wenig übrig. Nur gemein und gehässig darf der Klatsch nicht werden.

Immer hörte man in Dt. Eylau die Behauptung, die Stadt habe kein Schloss gehabt, wohl eine Schloss-Straße, niemals aber ein wirkliches Schloss. Dieses aber ist ein großer Irrtum, denn Dt. Eylau hatte tatsächlich einmal ein Schloss und sogar ein recht stattliches.



Deutsch Eylau etwa um 1350 - Südost-Seite (G. Templin)

Es war das Haus des Ordenspflegers, in dem eine zeitlang sogar Heinrich von Plauen, der spätere Hochmeister und Retter der Marienburg residierte. Das Haus des Pflegers war im Baustil genau dem der Ordenskirche angepasst, hatte die gleiche Höhe, dasselbe hohe Dach mit allen Giebelverzierungen. Das Pflegerhaus schloss sich unmittelbar an den Kirchenturm an. Der Pfleger konnte direkt aus seiner Wohnung in die Kirche gehen, noch heute erkennt man deutlich die Umrisse der Durchgangstür im Mauerwerk des Turmes. Sie ist vermauert worden und liegt recht hoch, ein Beweis dafür dass das Pflegerhaus mindestens ebenso hoch, wie die Kirche war. Dieses Haus, treffender gesagt, dieses Schloss war ein langgestrecktes Gebäude und reichte mit seinen Anbauten direkt an das Löbauer oder polnische Tor im Gebiet der Kaiserstraße, dort, wo sich zuletzt die Druckerei von Estner befand. Dieses ist keine Vermutung, sondern eine Tatsache, denn bei dem Bau von den Häusern in der Schloss-Straße stieß man bei den Ausschachtungsarbeiten auf riesige Fundamente und gemauerte Wölbungen.



Deutsch Eylau um 1400  -  Nordost-Seite mit dem Löbauertor (G. Templin)

Die Brunnengasse war zu unserer Zeit eine recht stille Straße. Aber das war nicht immer so. An ihrem Ende befand sich der wichtige Stadtbrunnen, und an ihm ging es in der alten Zeit immer recht lebhaft zu. Dieser Brunnen lieferte das Trinkwasser für die ganze Stadt. Für die Wäsche und Viehzeug benutzte man See- oder Flusswasser. In den Morgen- und den Abendstunden gingen dann die Frauen und Mädchen mit Kannen und den schweren Holzeimern an dem Tragholz - Pede - zum Brunnen und verweilten sich gern ein bisschen länger. Der ganze Stadtklatsch wurde durchgehechelt. Der Brunnen wurde dann zugeschüttet, heute noch erkennt man die kreisrunde Öffnung des Brunnenschachtes in der Pflasterung.



Die Brunnenstraße im Mittelalter (G. Templin)

Der Brunnenstraße gerade gegenüber auf der anderen Seite des Marktes, zwischen der Fleischerei Klatt und dem Kaufladen Falk, begann die Rosenstraße. Diesen Straßennamen fand man in vielen ostpreußischen und westpreußischen Städten. Wer sich hier aber auf duftende Rosen verspitzte, sah sich arg enttäuscht, allenfalls ein schäbiger zerfledderter Oleanderbaum stand dort neben der Bank vor einem kleinen alten Haus, von Garten keine Spur. Und die Rosen? Auch wieder so eine Straßenbezeichnung des Volkswitzes. Mit Rosen bezeichnete man in der guten alten Zeit die leichtfertigen Frauen und Mädchen, die gern in dieser Gasse wohnten. Die Zeiten haben sich geändert, nur die Menschen ändern sich in  ihren Liebhabereien, ihren Gewohnheiten und Sitten nicht, und das ist doch eigentlich schade.

Das sind so ziemlich alle Straßen der Altstadt. Die Kirchengasse führte schon immer zur Ordenskirche und zum Pfarrhaus. Übrigens stand vor der Kirche früher die erste Stadtschule, ein schlichtes, einstöckiges Gebäude mit hoher Vortreppe. Diese alte Schule umfasste nur wenig Klassenräume, etwa zwei bis drei, weil die Schülerzahl äußerst gering war. Ursprünglich wurde sie auch nur von Kindern der wohlhabenden Bürger besucht, hatte daher mehr den Charakter einer höheren Schule. Der Lehrer war zuerst der Pfarrgehilfe, der auch das Amt des zweiten Geistlichen versah.

Es gab dann noch in der Altstadt eine ganze Anzahl von schmalen Gängen, die die Häuserblocks durchzogen, und von denen noch einzelne Reste bis in unsere Zeit vorhanden waren. Die meisten Häuser hatten ursprünglich keine Auffahrt, etwas Viehzeug hielt aber jeder Bürger: ein paar Kühe, Schweine und Geflügel. An jedem Morgen sammelte ein Stadthirte die Rinder und Pferde auf dem Marktplatz, zog mit seiner Herde zum Tor hinaus nach der Gemeindeweide und dem Rossgarten weit draußen im Vorfeld der Stadt.

Interessant sind auch die Namen: Nieder- und Oberwallstraße. Die Bezeichnung Wall deutet darauf hin, dass sich hier einmal Erdwälle befunden haben, und tatsächlich konnte man auch Reste von Wällen erkennen. In dem Viereck zwischen Saalfelder-, Ober- und Niederwallstraße sowie einem Teil der Kaiserstraße befand sich sicher eine Art Vorburg, die durch hohe Erdwälle in Verbindung mit Palisadenschutz gesichert war. Hier wollte man den ersten Ansturm der Feinde aufhalten. Hier war ja auch die im Süden der Stadt besonders exponierte Seite. Diese Festungsanlage zeigte eine gewisse Ähnlichkeit mit den altpreußischen Fliehburgen. Der Kesselberg am Silmsee hatte ja auch eine noch deutlich erkennbare Vorburg auf der Landseite. Mir fällt hierbei ein, ob nicht auch hier der Ritterorden in seiner Burg und Stadtanlage von Deutsch Eylau sich bereits an eine vorhandene uralte Verteidigungsanlage gehalten hat. Die verhältnismäßige dichte Bevölkerung des Gebietes am Geserich-See macht diese Vermutung mehr als wahrscheinlich. Der Kampf der Menschen gegen Menschen bestand ja schon in den Urzeiten unserer Erde.

Noch eins möchte ich hier sagen und besonders betonen: man darf ja nicht denken, dass das Leben im alten Eylau während der Ordenszeit und darüber hinaus unendlich einförmig und langweilig gewesen sei. Es war in Wirklichkeit außerordentlich rege und kurzweilig, immer war es ein ständiges Gehen und Kommen. Fast jeder Bürger trieb ein Handwerk oder Gewerbe. Gerade ersteres stand damals in höchster Blüte. Ich hatte in Dt. Eylau Gelegenheit, ein altes Innungsbuch des Schneiderhandwerks durchzuarbeiten und staunte über die Anzahl der selbstständigen Meister damals. Und jeder hatte mehrere Gesellen und Lehrlinge. Nicht nur bei den Innungsfesten, sondern auch bei der Einschreibung und Lossprechung der Lehrlinge und Gesellen ging es immer hoch her. Etliche Tonnen Gerstensaft waren immer fällig. und die anderen Handwerker waren nicht minder stark vertreten.

Viele Handwerker wurden zu den Großbürgern gezählt. Damals hatte das Handwerk tatsächlich einen goldenen Boden. Das Nähen eines Anzuges kostete ein bis zwei preußische Mark, aber für dieses Geld konnte man ein  ganzes ausgewachsenes Rind kaufen. Am Absatz der Waren mangelte es wahrhaftig nicht. Allerdings gab es früher keine Ladengeschäfte. Die Handwerker und Kaufleute hatten aber dafür auf dem Marktplatz ihre Verkaufsstände, die sogenannten "Bänke", wo sie ihre Waren feilboten.

Am Tor war es nie still. Täglich rollten die Bauernwagen aus der Umgebung in die Stadt, ab und zu kam auch ein Postwagen. Die großen Herren der Güter kamen hoch zu Ross mit einem Reitknecht im Gefolge. Jeder Ritter kam mit einem starken Geleit von dienenden Brüdern, den Graumäntlern, und mit vielen Knechten, die dann meistens im Schloss übernachteten. Aber es kam auch allerhand fahrendes Volk auf Schusters Rappen in die Stadt: Bänkelsänger, die ihre grusligen Moritaten in den Straßen hinunterleierten, Akrobaten, Schlangenmenschen, Seiltänzer und Jongleure zeigten Kunststücke auf offenem Markt, Wunderdoktors, Zauberer, Kartenleser, auch Sterndeuter, die schon damals neben Wahrsagern die Zukunft zu entschleiern suchten, kamen herein.



Jahrmarkt im Mittelalter (G. Templin)

Und dann die vielen Wanderburschen, welche Arbeit suchten, häufig suchten sie die Arbeit auch nicht, wollten nur ein paar Zehrpfennige bei den Handwerksmeistern ergattern. Am Wochenmarktstag riss die Kette der hereinkommenden Wagen überhaupt nicht ab. Es gab ein heilloses Gedränge, ein jeder war glücklich, wenn er sich ohne Schaden hindurch winden konnte.  Dazu kamen noch die sich wiederholenden Volks- und Kirchenfeste. Eines der Hauptfeste war das Vogelschießen, das sich später zum Schützenfest entwickelte und meistens 3 Tag dauerte. Bei diesen Festen, besonders auch den kirchlichen, wurde immer viel Mummenschanz getrieben. Man konnte die drolligsten und scheußlichsten Masken bewundern, besonders beliebt waren grässliche Teufelsmasken.

Es war damals eine lustige Zeit in Dt. Eylau, unendlich abwechslungsreich, jeder kam auf seine Rechnung, und die Klatschmäuler hatten ihre große Zeit. Sprichst du jetzt noch von öde und langweilig? Ich tue das schon lange nicht mehr. Ja, mir scheint es sogar, als ob das Leben heute, trotz aller technischen Errungenschaften, viel leerer und geistloser geworden wäre. Der Individualismus wächst immer mehr und erstickt jedes fruchtbare Gemeinschaftsleben.

Du wirst denken, die Leute hätten in jener Zeit nur gefeiert. Fehlgeschossen! Wenn gearbeitet wurde, wurde auch tüchtig geschafft von 5 Uhr früh bis in die Nacht. Einen Feierabend gab es nicht. Nach dem Abendessen saßen die Frauen noch am Spinnrocken bis zur Schlafenszeit. Daher auch der allgemeine Wohlstand damals. Denkst du noch an den Bauern in Nickelswalde bei Danzig, der in seinem Gästezimmer an dem Tisch zwölf Tonnen gefüllt mit purem Golde stehen hatte?

Damit wäre ich eigentlich fertig mit meinem Bericht über die Altstadt von Dt. Eylau. Aber mir fällt noch eine Kuriosität ein, die ich nicht vergessen möchte. Sagt da einmal mein lieber Freund und Kollege Hermann Mursch, ein geborener Winkelsdorfer, mit verschmitztem Lächeln zu mir: "Eins haben sie noch von Dt. Eylau vergessen zu erzählen?" Ich sah ihn verwundert an. "Vergessen, was denn?" Dt. Eylau hatte nicht nur ein Schloss, sondern 2 Schlösser, auch noch das Schloss Madrid!" Hierbei handelte es sich um eine recht verrufene Kneipe dicht an der Stadtmauer. Durch einen schmalen dunklen Gang, der von der Kaiserstraße aus gesehen, von der rechten Marktseite abzweigte, konnte man zum "Schloss" gelangen. Aber "Schloss Madrid?" Was hat Dt. Eylau mit der spanischen Hauptstadt zu tun? Ja, das war nun auch wieder so eine Wortbildung des Volkswitzes. Der Name ist eine Ableitung von dem altpreußischen Wort "Madern". In unserem Prußenlande war ja die Bemerkung: "Junge, madder nicht!", d.h. "treib keinen Unfug", ein geflügeltes Wort, das man sehr oft gebrauchte. Sicher ist auch diese Spelunke bei der Zerstörung vom Erdboden verschwunden, und das ist gut so. Du meinst nun sicher, das ist wieder so ein richtiger Blödsinn, und ich gebe Dir recht.

Das Nutzungsrecht der Urheberrechte an den Bildern und Aufzeichnungen von Herrn Gerhard Templin wurden an Frau Christa Mühleisen übertragen.