Bogumil Goltz - ein
literarisches Original
von Gerhard Templin
Bearbeitung: C.
Mühleisen
Zugeben muß man leider, daß
Westpreußen ganz große Dichter und Schriftsteller nicht hervorgebracht
hat - ganz im Gegensatz zu Ostpreußen - aber dafür sind doch viele da,
die hoch über dem Durchschnitt stehen, von diesen aber haben wiederum
nicht wenige das eine oder andere Werk geschaffen, das recht bedeutsam
ist, ja als eine Höchstleistung zu bewerten ist.
Wir wollen
einen Blick in die Vergangenheit machen, der wahrscheinlich nicht der
schlechteste war, Bogumil Goltz, ein literarisches Original. Er ist
nicht im heutigen Westpreußen geboren, aber in dem damals preußischen
Warschau, im Jahre 1801, und hat dann den größten Teil seines Lebens
in Westpreußen zugebracht, wenn auch sein Leben unstet war.
Ansichtskarte von Kl. Tromnau (1917), dem Wohnort von Bogumil
Goltz - Sammlung C. Mühleisen
Er hat sein
Leben, besonders seine Kindheit, in der persönlichsten und doch
allgemeinen Form gesprochen, so dass ein jeder seine eigene Kindheit
sich entgegenleuchten sieht, und zwar in 2 Büchern, die auch heute noch
seine wertvollsten Bücher sind und die wohl nicht so leicht ihren Wert
verlieren werden, obwohl sie in einem sehr originellen, etwas
schrullenhaften Stil geschrieben sind. Das eine der Bücher führt den
Titel "Buch der Kindheit" (1847). Das andere heißt
"Jugendleben" (1851). Beides sind Bücher, die die Liebe
geschrieben hat. Kein geringerer als Friedrich Hebbel hat über das
"Buch der Kindheit" folgendermaßen geurteilt:
Von
welcher Fülle der echtesten Poesie strotzt fas jedes Kapitel? Wenn es
jemals einen Dichter gab, der den Pfad zum Paradies der Kindheit
zurückfand, so ist es Goltz".
Und nun ein Auszug aus seinem Buch
der Kindheit: "Ein Besuch in Riesenburg vor fast 200 Jahren".
Hotel
Deutsches Haus um 1800 (G. Templin)
In
dem Städtchen Riesenburg, eine Meile von Tromnau, wohnte sogar eine
Urgroßmutter von mir, eine steinalte verwitwete Kaufmannsfrau, welcher
der Ruf viel Geld zuschrieb, das sie auch aus der Franzosenzeit in
allerlei Gold und seltenen Talerstücken bei Seite gelegt oder gar als
Schatz vergraben habe; andere Geschichten nicht zu gedenken, die mit
diesem Schatze vergesellschaftet waren, und die Besitzerin zu einer
Person machten, die ganz anders sein musste, wie eine andere alte Frau.
Im
übrigen war man der alten Dame in dem Städtchen respektvoll zugetan,
denn sie erschien als eine äußerst stattliche, riesenhaft groß
gewachsene, sehr fromme, was die Hauptsache war, als eine sehr
mildtätige, überhaupt als eine in allen Stücken ehrenfeste Frau. Wie
sehnsüchtig mußte nun meine Neugierde danach verlangen, diese
merkwürdige Urgroßtante zu sehen, auf die meine Mutter, wiewohl sie
sich sonst nicht von erst wem imponieren ließ, nur mit kindlicher
Ehrfurcht und sogar mit einer heiliger Scheu zu sprechen kam. Und auch
dieses Sehnen erfüllte sich bald.
In dem wiesenumgürteten
Riesenburg standen von alten Zeiten her Dragoner. Die adeligen Offiziere
suchten sich die langen Winterabende mit einem Liebhabertheater zu
verkürzen, und so wurde das erste Stück angesagt.
Die Rennbahn in Riesenburg um 1800 (G. Templin)
Unser lieber
Pfarrherr war mit seiner Schwester dazu eingeladen und ich war als der
Jüngste der Pflegebefohlenen und als besonderer Liebling zu der
Festlichkeit mitgenommen, schon um zu sehen, wie und in welcher Art mich
die Komödie berühren möchte. Die Nacht nach dem Theater sollte ich
bei der Urgroßtante verbleiben, und nach gemachter Bekanntschaft mit
ihren Marktrossen wieder nach unserem stillen Dorf zurückgeschickt
werden.
Es war ein milder Dezembertag in der Woche vor dem
Weihnachtsfest, als eines Nachmittags uns die erste, also gleichsam
jungfräuliche Schneebahn auf ihrem schimmernden Elemente dem großen
Kunstgenusse entgegen trug.
Mein lieber Pflegevater hatte, nicht aus
Üppigkeit, wohl aber um bei der nächtlichen Rückfahrt nicht anderen
Leuten auf den Hals zu fahren, vom Edelhof ein bescheidenes
Schellengeläute von ein paar Kuhglocken und einer erschrecklich vorlaut
klingenden kleinen Tischglocke besorgt, und so fuhren wir denn, von
vielen dienstfertigen Händen rundum bestopft, als Glückliche vom
ganzen Hauswesen beneidet und von meinen mit aufhockenden Kameraden bis
hinters Dorf begleitet, höchst wohlgemut im köstlichen Wetter auf
unserem Leiterpuffschlitten und auf Erbsenstroh unseres Weges. Der gute
Pfarrer und seine liebe Schwester wunderten sich demnächst, dass ich so
still und in mich gekehrt saß, wie wenn mir was zu Leide geschehen sei.
Die Ursache aber war umgekehrt die, daß ich an dem Übermaß von
gegenwärtigen, sowie von nahe bevorstehenden und in nahe Zukunft
gestellten Glückseligkeiten zugleich ganz benommen war. Soviel
Lebensgenuß stickte mich ordentlich in der Brust, so daß ich einige
Zeit brauchte, Eines nach dem Andern zu rechte zu fleien, und mit
Bewußtsein zu genießen.
Die erste Schlittenbahn vom Jahre, die
Fahrt selbst, das Glockengeläute, das wunderschöne Wetter, der Weg
nach dem geheimnisvollen Riesenburg, wo in der Kirche noch Knochen von
Riesen gezeigt wurden, und wo vor den Toren der Stadt sich ein
unermeßlicher See ausdehnte, den zur Sommerzeit Hunderte von Schwänen
besegelten, und wo ich endlich in das Kaufhaus der reichen riesenhaften
Urgroßtante auf Besuch kommen sollte, vor allen Dingen aber die
erste Komödie von Menschen aufgeführt, und nach all dem Erlebnis in
der anderen Woche Weihnachten, also die ganze Woche entlang Tag für Tag
Weihnachten-Vorgeschmack, das war mehr, als eine schwache Seele ertrug.
Aber mit dem Essen kommt der Appetit, und mit jedem Genuß die Kurage
und die Dicknäsigkeit, sich in sein Glück zu finden. Auch ich rappelte
mich endlich aus meinem Erbsenstroh, in das ich halb eingemullt war,
hervor, und zwitschert so kecklich seelenvergnügt und naseweiß wie die
Sperlinge, die in dem Schlittengeleise die Futterkörner aus dem Dünger
pickten. Mein lieber Pflegevater sang und sagte mir unterwegs das Lied
von der Türkenpfeife vor, und so waren wir vor der Stadt der Riesen,
bevor wir uns dessen versahen.
Rathaus u. Hauptstraße in Riesenburg um 1800 (G. Templin)
Obgleich ich nun Verstand genug
besaß, um zu wissen, daß es in dem Städtchen keine lebendigen Riesen
mehr gab, wo war es meiner nicht rastenden Phantasie gleichwohl so, als
könnten schon im Tore oder doch aus irgendeinem Winkel bei der Kirche
oder Stadtmauer irgendwelche ungeschlachte Riesengestalten zum Vorschein
kommen und uns Tromnauern die Parole abfragen.
Markt
und Kirchenstraße in Riesenburg um 1800 (G. Templin)
Statt dessen begegneten
wir gleich in der Straße einem alten Handlungsdiener meiner
Urgroßtante, der unseren Pfarrherrn erkannte, und mich demnächst, da
es noch ein paar Stunden Zeit zur Komödie war, bis dahin mit sich nahm.
Ich trabte neben dem großen Manne die Straße entlang voller Erwartung
der Dinge, die da kommen würden. Ein gewaltiges steinernes Markt- und
Eckhaus mit Hintergebäuden ward mir als das der Prinzipalin meines
Führers mit wichtiger Mine gezeigt.
Wir traten ein, und zwar
zuerst in einen meinen Augen fabelhaft hoch und weit erscheinenden
Hausflur, in den soeben ein Frachtwagen hereingebracht und mit
allerlei Tuchwaren für einen benachbarten Markt bepackt ward.
Während
dieser Tätigkeit erschien auf einem über dem Boden des Vorhauses
erhöhten Treppenraum vor einer geöffneten Zimmertür eine in der Tat
riesenhaft große Frauengestalt (sie maß volle sechs Schuh). Es war die
Urgroßtante in eigener Person!. Nachdem sie ihren Willen in Betreff des
Packwagens kund getan hatte, ward ich arme Krabbate, in mein
Eissigmäntelchen gewickelt, der Herrin vom Hause durch den alten
Kaufdiener entgegengeführt und ihren Händen ehrerbietigst und
feierlich mit den pedantisch stilisierten Worten vorgestellt:
"Dies hier ist der kleine Sohn des Herrn Pfarrer Jockstein, der
sich zu Tromnau befindet."
Ich war ordentlich über die Art
von Wichtigkeit bestürzt, die ich bei einer so weitläufig gefaßten
Vorstellung, wie es mir däuchte, mitzuerlangen schien, und daß meine
Wenigkeit sich überhaupt befinden könnte, was ich mir von großen
Leuten möglich gedacht. Aber man faßt sich unschwer in neue Würden
und Ehren, und so folgte ich der hohen Frau zur Stube. Ihre Haltung war
so kerzengerade wie die eines Garde-Grenadiers, und ihre
ernst-feierliche Miene verzog sich nur ein wenig zum Lächeln, als sie
meine Verlegenheit und Ratlosigkeit ersah, mich aus der Pummelage wie
sie es nannte, herauszuschälen.
Nachdem sie dazu einen bei ihrer
geraden Haltung und Größe nicht gleich gelingenden Versuch mit
Aufknöpfen gemacht hatte, kam eine alte Hausjungfer mit ihrem Nähzeug
herbei, das Benötigte zu vollbringen, und nun ward ich dann von der
alten Dame mit den halb zu ihrer Jungfer und halb zu sich selbst
gesprochenen Worten auf den hohen Fenstertritt des ziemlich düsteren
großen Gemachs gestellt: "Das ist meiner Großnichte Kind, das ist
der Justchen ihr jüngster Junge." So ungeniert hatte ich meine
Mutter noch von niemandem nennen gehört, und ich meinte, daß nur
Kinder bei ihrem Vornamen gerufen werden könnten. Hier wurde nun eine
so strenge Frau wie meine Erzeugerin schlichtweg Justchen genannt. Wenn
ich aber die Urgroßtante anblickte, so schien mir die Sache doch nicht
so unnatürlich zu sein, denn meine Mutter, obwohl ebenfalls eine
stattliche Person, konnte dieser Frau sehr wohl als Tochter auf dem
Schoße sitzen.
Ich hatte einen zinnernen Becher mit Milchkaffee
vor mir stehen, in den ich meinen Riesenzwieback brockte. Das gab mir
Beschäftigung, Haltung und Fassung zugleich. Die Urgroßtante sah in
ihrem ruhigen Wesen von Zeit zu Zeit sinnig und teilnehmend zu dem
Kindertischchen herüber, vor dem ich vesperte, wie wenn sie sich auf
längst verwichene Zeiten und Dinge besinnen wollte, und ich hatte
derweil, mit den Herrlichkeiten im Zimmer die erwünschte Bekanntschaft
zu machen, die schönste Zeit.
Selbst die Luft in dem fabelhaft
großen, hohen und halbdunklen Wohnzimmer hatte etwas Vorsintflutliches,
und von dem Terpentinwachs all der gewaltigen Möbel, der eichenen
Türen und baumstarken Fensterpeter etwas, das an Sarg und Kirche
erinnerte, und wenn man nicht zum Fenster hinaussah, so konnte man
meinen, es sei noch ein dicker Zopf und die Jugendzeit Friedrich des
Großen in der Welt. Solche Gedanken erhielten aber vollkommene
Wirklichkeit durch einen Gegenstand, der mich mehr als all das Gerät
und Puppenwesen beschäftigte.
Am kolossalen Ofen in einem
mächtigen, mit grünem Tuch ausgeschlagenen Polster- und
Großvaterstuhl saß still und steif einer Mumie gleich, ein hundert und
sieben Jahr alter Mann, mit einer grünsamtenen Mardermütze auf dem
kahlen Scheitel, die erstarrten Füße in Flanell. Es war der ehemalige
Großbürger und Altmeister der ehrbaren Tischlerzunft zu Riesenburg,
der kunstreiche Urheber all der alten Möbel und selbst der Türen und
Fenster um ihn her. Es waren seine Gesellenstücke und Meisterstücke,
und nun aß er in diesem Hause, umgeben von den Werken seiner Hände,
das Gnadenbrot dieser Hausherrin, die selbst neunzig Jahre alt und
gleich noch so rüstig war wie eine Fünfzigerin.
Von dem lautlos
dasitzenden Greise konnte ich kein Auge lassen. Daß er in der warmen
Stube die Pelzmütze aufbehielt, war mir ganz verwunderlich, nicht
minder aber, daß er garnichts sprach, und doch hatte ich ein Gefühl,
der Mann müsse mehr erzählen können, wenn er nur wollte, als alle
meine Märchen- und Geschichtsbücher und alle alten Weiber in Tromnau
zusammengenommen; denn er war ja anzusehen wie der abgeschiedene Geist
der alten Chronik selbst.
Wie neugierig war ich, nur ein Wort von
ihm zu hören. Endlich gab er seiner Gönnerin eine schwachbetonte
Antwort auf ihre Ermunterung, mich, ihren Urenkelneffen, doch mal näher
anzusehen. Er holte eine Brille aus einem vor seinem Tischchen liegenden
Futteral, tat sie auf die Nase, legte mir, während ich zu ihm
herangetreten war, die zitternde Hand auf den Kopf, und mit eben solcher
Stimme hörte ich ihn sagen: " Meine liebe Madame Bennewitz, vor
hundert Jahren war ich auch so ein Kind; ich will ihm nicht wünschen,
daß er so wird wie ich, und dies bei Gott beschlossen ist, daß er eine
solche Gönnerin findet wie ich, wenn er sie brauchen sollte."
Damit ließ er die Hand von mir und sich in den Lehnstuhl zurück.
Der
Mann hieß Glaser und wußte, wie ich später erfuhr, sehr viel vom
Siebenjährigen Kriege, von Friedrich des Großen Vater, sowie von Pest
und Heuschrecken zu erzählen. Ebenso kannte er die Lebensläufe der
bemerklichsten und ältesten Brüder des Städtchens. Das Mal aber sagte
er nichts mehr. Meine Zweifel aber, ob er überhaupt reden könne, und
ordentlicherweise am Leben sei, hatte er zu meiner Zufriedenheit
gelöst. Der Gesagte war von mir freilich mehr mit dem Gedächtnis als
mit dem Gemüte gefaßt worden, da ich eben sehr zerstreut und viel zu
jung war, von der sittlichen Macht in Alter, Tod und Vergangenheit
berührt zu werden, oder ihren Einfluß auf die Gegenwart zu verstehen.
Nach
dem Theater, das mich mehr durch Neuheit überraschte, als in dem
befriedigte, was ich vermutet hatte, und von dessen Inhalt ich wenig
verstand, wäre ich am liebsten wieder gleich nach Tromnau
zurückgefahren, wenn man mir nicht bedeutet hätte, daß dies
unschicklich und ich gehalten sei, so lange bei der alten Dame zu
bleiben, bis sie mich von selber nach Hause schicken werde. Somit war
ich denn wieder einem alten Kaufdiener der Madame Bennewitz übergeben,
und von demselben bei der Ankunft im Haus, wo schon alles schlief, des
weiteren der alten Hausmamsell ausgeliefert, von dieser aber in einem
der oberen Stockwerke zu Bette gebracht.
Von den Erlebnissen des
Tages überfüllt und bewältigt, hatte der Schlaf keine schwere Arbeit
mit mir. Ich schlief wie ein Ratz und, wie man zu sagen pflegt, so fest,
daß kein Auge das andere sah. Was ich geträumt habe, ist aus meinem
Gedächtnis und wahrscheinlich aus der Welt entwichen, wenn's nicht
unser Herrgott behalten hat. Aber als ich am späten Morgen erwachte,
lag ich in einem herrlichen, altfränkischen Gardinenbett, in einem mit
Goldleisten dekorierten Tapetenzimmer, die alte Hausjungfer stand vor
mir und ermahnte mich zum Aufstehen, falls ich zur Kirche gehen wollte;
denn es war Sonntag und es läuteten soeben die Glocken. Meine Toilette
war rasch gemacht, mein Frühstück, das bereits dastand, ebenso schnell
verzehrt; denn unten hielt die Urgroßtante bereits ihre Hausandacht, da
sie sich für den Gottesdienst in der Kirche zu schwach fand. Zu dieser eilte ich nun mit meiner alten Mamsell und studierte die ganze Zeit
der Andacht entlang die fabelhaft gemalten Historien an der mit Brettern
verschalten Kirchendecke, ganz besonders aber die Riesenfiguren von Adam
und Eva unter dem Apfelbaum, die man in der Gegend des Altars noch heute
dort sieht.
In das Gotteshaus mag sich immerhin der Geist und
wenn man's so nennen will, das Gespenst der alten Zeit hinflüchten;
wird doch jeder Tag und jede Stunde fort und fort dem Tage und die
Stunden, die da folgen zum Gespenst, und das Nächstverwichene ist so
alt wie das Älteste, wenn's denn einmal hin und vorüber ist im Strome
der Zeit. Die Alltagsseelen halten ihre Eindrücke nicht gar fest, im
bunten Wechsel der Zeit verwischt ein Bild das andere, bis alles sich
wiederum in das Chaos zurückverwandelt hat, aus dem die Seelen und
Lebensgestaltungen hervorgingen. Das sind so meine Gedanken von heute.
Damals hatte ich nur so meine Schauer von Zeit und Ewigkeit, von Leben
und Tod! Aber sie flogen vorüber wie duftiger Nebelhauch über
einen hellen Wasserspiegel, in welchem der blaue Himmel und die grüne
Erde ihre Morgentoilette machen für den Monat Mai.
In
Riesenburg gibt es auch ein katholisches Kirchlein, die polnische Kirche
genannt. Sie liegt in einem äußersten Winkel der Stadt, und da ich
während des Nachmittagsgottesdienstes der Urgroßtante ein wenig an der
Kirche zu spielen Erlaubnis erhalten hatte, so geriet ich beim
Herumstreichen in den Winkelgassen, die ich von Anbeginn um der
Abenteuer liebte, welche mir die Phantasie dort vorspielte, auch in den
Bereich der polnischen Kirche. Mochte es nun vor der Nachmittagsandacht
sein, oder sonst welche Bewandnis haben, genug, der Herr Kantor spielte
sich wunderschön auf der kleinen Orgel vor, und als mich die Neugierde
mit noch einem Spielkameraden, den ich mir auf der Gasse zugelegt hatte,
hineintrieb, war die Kirche leer und niemand darin zu sehen, als ein
altertümlich angezogenes und ganz wunderlich geschmücktes
Frauenzimmer, von dem man nimmer sagen konnte, ob es jung oder alt,
hübsch oder häßlich ob es wach oder im Traume sei?
Für die letzte
Ansicht hätte man sich wegen der Art und Weise entscheiden können, wie
die Person mit fast verschlossenen Augen und mit Gebärden, die dann und
wann in ein krampfhaft hinzuckendes Lächeln verzerrt wurden, um den
Altar beschäftigt war, den sie mit Kränzen, Strohblumen und
Katzenpfoten und mit allerlei Schleifen aufzuschmücken sich beeiferte.
Während ich nun der seltsamen Kirchenbewohnerin zuschaute, wie sie ganz
in ihrer Arbeit vertieft, einen Haufen von Kunstblumen in verschiedenen
zinnernen Blumenvasen zusammenordnete, wahrscheinlich um dieselben
hernach auf den Altar zu stellen, so flüsterte mir mein Gefährte zu:
"Du, das ist gewiß die verrückte Heliodora, die hier im Sommer
über ganz in der Sakristei wohnen soll, die hat aus Liebe den Verstand
verloren, hat meine Mutter gesagt."
Ich antwortete dem Jungen
nicht, denn mir war selbst halb verrückt und ganz widersprechend zu
Mute. Während ich indessen noch mit meinem Begleiter da stand, erhob
sich die Wahnsinnige und, an uns vorübergehend, sagte sie in einem ganz
unbelebten Tone, so wie ich ihn noch nie gehörte habe: "Überall
die Jungen, die einen quälen!"
Bei meiner Urgroßtante war
eben Kaffeezeit, und diesmal gab es Butterkuchen. Von meinem Abenteuer
erzählte ich nichts, und am anderen Morgen fuhr ich mit einem
Gutsbesitzer aus der Tromnauer Gegend zu meinen lieben Pflegeeltern
zurück, beschenkt mit Nürnberger Puppen und mit einem großen Thorner
Pfefferkuchen, den ich kameradschaftlich unter sämtliche Hausbewohner
verteilte.
Soweit die verkürzte Aufzeichnung aus dem Buch der
Kindheit von Bogumil Goltz.
Zeichnungen: G. Templin
Das
Nutzungsrecht der Urheberrechte an den Bildern und Aufzeichnungen von
Herrn Gerhard Templin wurde an Frau Christa Mühleisen übertragen.
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