Ein alter Herr erzählt aus der guten alten Zeit
von
Gerhard Templin
Bearbeitung C. Mühleisen
Mein
alter Lehrmeister erzählte mir vor seinem Tode seine Erlebnisse aus der
guten alten Zeit ab 1900 bis zum 1. Weltkrieg und später aus den
zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts. Ich habe nun die stichwortartigen
Aufzeichnungen überarbeitet und habe ihm versprochen, dieses zu
veröffentlichen:
Skilauf und Rodeln waren während meiner
Jugendzeit um 1900 nur wenig bekannt. Wir rutschten mit unseren
selbstgebastelten Schlitten die Wasserstraße in Deutsch-Eylau hinunter.
Die Kufen bestanden aus zwei schmalen Brettern, vorne waren sie schräg
zugeschnitten und mit schmalem Eisenblech beschlagen, darüber waren ein
paar Bretter genagelt und fertig war der Schlitten. Nur die Söhne
wohlhabender Eltern hatten einen vom Stellmacher oder Tischler
angefertigten Kufenschlitten.
Natürlich war das Fahren mit dem
Schlitten auf der Wasserstraße verboten. Die anliegenden Bewohner
wurden durch die Schlitten gefährdet. Wir selbst waren durch den
Verkehr in der Querstraße von der Saalfelderstraße zur
Fischereistraße in Gefahr. Außerdem wurde die Straße sehr glatt. Wir
mussten schon aufpassen, dass wir dabei nicht in die Hände des
Stadtpolizisten Kollmann gerieten. Der legte uns über das Knie und
versetzte uns mit seinem kurzen Säbel ein paar harte Schläge über den
Hintern. Der Ruf, "der Kollmann kommt!", setzte alle Jungenbeine in
Bewegung.
Sobald der erste starke Frost einsetzte, holten wir die
Schlittschuhe hervor. Sie wurden vom Rost befreit, eingeölt und wenn
notwendig vom Schlossermeister Oroschien in der Plapperstraße hohl
geschliffen. Oroschien war ein Original und in der ganzen Stadt bekannt.
Er machte alles, wie Neckermann. Wie ein Wiesel sah er aus, wenn er mit
seinem braunen Homburger auf dem Kopf durch die Straßen flitzte. Er
fertigte für die Hausfrauen Kuchenbleche und Formen an, setzte den
durchgebrannten Kochtöpfen neue Böden ein, reparierte Bügeleisen und
eiserne Öfen. Es gab fast nichts, was er nicht reparieren konnte. Er
war auch für den richtigen Gang der Turmuhr der alten Ordenskirche
verantwortlich, musste die Uhr aufziehen, ölen und kleine Reparaturen
ausführen. Die Reparaturen an den Riemen der Schlittschuhe
wurden vom Sattlermeister Polenz in der Plapperstraße ausgeführt. Die
langen Eisenpiken, ähnlich der Lanzen der Kürassiere, die bei uns
lagen, aber nur etwas kürzer, wurden angefertigt. Es gab bei den
Schlittschuhen verschiedene Typen, vorne spitz oder in einer Spirale
gebogen. Sie waren aus Stahl oder Eisen und meistens vernickelt, je nach
Geldbeutel und Geschmack. Nur wenige waren im Besitz von holländischen
Langlauf-Schlittschuhen. Diese hatten ein Oberteil aus Holz geformt,
unten war eine schmale, leicht gebogene Stahlschiene. Die Schlittschuhe
wurden mit Lederriemen befestigt. Sie waren leicht an den Füßen und
durch die Holzauflage warm beim Laufen. Warme Winterkleidung war
unbedingt erforderlich, dazu gehörten Wollschal, Fausthandschuhe und
Wollsocken, alles von Muttern selbst gestrickt. Selbstverständlich
gehörten derbe Schuhe zur Ausrüstung.
Täglich wurde die
Stärke des Eises geprüft und sehnlichst darauf gewartet, dass die
Stadtverwaltung das Eis zum Betreten frei gab. Wetter und Wolkenbildung
wurden beobachtet, ein stärkerer Schneefall würde den Langlauf
verhindern. Nachdem alle Voraussetzungen beisammen waren, wurde der
Treffpunkt vor dem Sägewerk Seifert vereinbart. Die Schlittschuhe
wurden angeschnallt, ein kurzer Probelauf, damit alles in Ordnung ist,
und die Fahrt konnte beginnen. Mit langen Schritten und Abstoßen mit
der Eispike begann der Lauf, links kam die Insel Gr. Werder in Sicht,
auf der die Fliehburg der alten Prussen gestanden hatte. Auf der Höhe
war ein Kessel, der Schutz vor den Feinden bot. Beim Einfall der Russen
im Jahr 1945 suchten hier einige Deutsch-Eylauer Schutz. Es war
vergebens, sie wurden von den Russen erschlagen. Mit langen
gleichmäßigen Schritten ging es weiter und bald kam die Liebesinsel in
Sicht. Hier hatte einmal der Anglerverein eine Schutzhütte gebaut.
Fischmeister Steinberg war der Organisator, aber der Bau wurde durch
Selbsthilfe errichtet. Die Stadt Deutsch-Eylau trug durch
Materiallieferung zum Gelingen bei. Hier wurde eine Ruhepause
eingelegt. Der erste Lauf in diesem Jahr machte sich doch bemerkbar. Die
Ruhepause hat uns gut getan und mit neuer Kraft ging es weiter, links
von uns kam die dritte Ablage in Sicht, sie lag auf einer Höhe und
davor war ein freier Platz. Hier wurden die von der Försterei
Grafschaft Schönberg gefällten Bäume gelagert und in das Wasser
gerollt, wo sie im Sommer zu Flößen zusammengestellt und mit einem
Dampfer zu den Sägewerken der Stadt Deutsch-Eylau gezogen wurden. Diese
Ablage war ein beliebtes Ausflugsziel. Man konnte sie zu Fuß oder mit
einem Boot oder Dampfer erreichen. Pilzesammler fanden in diesen
Wäldern im Herbst sehr viele Steinpilze, die ein gutes Mittagsmahl
ergaben.
Von hier war es nicht mehr weit bis zu unserem Ziel
Schalkendorf. Die Puste ging uns so langsam aus und wir waren froh, an
der Dampferanlegestelle abschnallen zu können. Auf der Höhe lag das
bekannte Ausflugslokal "Papa Kirschke". Hier fuhr im Sommer
der Dampfer "Emilie", Besitzer Süßwasserkapitän Matzmor,
hin. Hier wurde man richtig familiär bedient. Doch heute waren unsere
Schulkameraden da, die uns mit großen "Hallo" empfingen.
Schal, Fausthandschuhe und Jacke wurden abgelegt. Das Lokal war
behaglich beheizt. Stullenpakete, die uns Muttern mit auf den Weg
gegeben hatte, wurden hervorgeholt und restlos verzehrt. Der Lauf hatte
für einen großen Hunger gesorgt.
Bei munterem Geplauder verging
die Zeit sehr schnell und wir mussten uns für die Rückfahrt rüsten.
Die Sonne hatte sich inter den Wolken versteckt und der Himmel war grau
verhangen. Der Wind war stärker geworden, aber es half nichts, die
Schlittschuhe mussten angeschnallt werden und es ging auf die
Rückreise. Nach vorne gebeugt, dem Wind wenig Widerstand leistend, ging
es vorwärts ohne Ruhepause nach Hause. Für die Schönheiten von Wald
und See hatten wir jetzt kein Auge. Mühsam kämpften wir uns vorwärts.
Mit letzter Kraft wurde der Heimathafen erreicht. Nachdem wir die
Schlittschuhe abgelegt hatten, stellten wir ein taubes Gefühl in
unseren Füßen fest. Wir liefen deshalb einige Male im Kreise herum. Zu
Hause wurde alles abgelegt und die Hände wurden am warmen Kachelofen
gewärmt. Muttern hatte in der Bratröhre das Essen warm gestellt. Wir
ließen uns das Eintopfgericht gut schmecken. Als Nachtisch brutzelten
Bratäpfel in der Ofenröhre und verbreiteten einen angenehmen Duft.
Dann wurde noch über unseren Eislauf geplaudert und die Müdigkeit
überkam uns. Bald waren wir eingeschlafen. Ein strammer Muskelkater am
nächsten Tag war die Folge.
Am nächsten Morgen fiel Schnee und
überall lag eine dicke Schneedecke. Vorbei war es mit dem Langlauf, nur
die Eisbahnen gaben noch die Gelegenheiten zum Schlittschuhlaufen. Wir
Jungen schaufelten und fegten in der Nähe des Sägewerks Seifert unsere
Eisbahn frei. wir passten auf, dass kein Fremder diese Bahn benutzte.
Dieses ging oft nicht ohne Rauferei ab. Hier übten wir unser erstes
Bogenschneiden, Dreier und Achter laufen. Allmählich zeigten sich die
ersten Erfolge, man setzte sich nicht mehr so oft auf die Kehrseite.
Die
große städtische Eisbahn wurde jedes Jahr neu vergeben. Die Eisbahn
erforderte viel Pflege. Nach jedem Schneefall musste sie
freigeschaufelt und neu gefegt werden. War die Fläche nach vielem
Laufen stark aufgekratzt, wurde sie mit einer Menge Wasser begossen,
damit sie wieder schön glatt wurde. Diese Eisbahn lag in der Nähe der
Dampferanlegestelle.
Eislauf
auf dem Geserichsee
Hier wirbelten Männlein und Weiblein
durcheinander. Die Anfänger lagen mehr auf ihrer Kehrseite. Eine
Würstchenbude, die auch heiße Getränke führte, sorgte für das
leibliche Wohl der Läufer. Am Nachmittag und an den Sonntagen stand
hier ein Leierkastenmann und spielte lustige Weisen. Bei schönem Wetter
am Sonntag spielte die Kapelle des Infanterieregiments 59 ihr
Platzkonzert, dann war die Eisbahn voll. Der Eintritt kostete einen
Groschen, später wurde er auf dreißig Pfennige erhöht. Bänke zum
Anschnallen der Schlittschuhe und zum Ausruhen waren auch vorhanden.
Besonders die jungen Damen ließen sich die Schlittschuhe für einen
Groschen anschnallen. Hier zeigten die Eislaufkünstler ihre Künste.
Viele Damen und Herrn schwebten gemeinsam über das Eis. Bis in die
späten Abendstunden war auf der Bahn Betrieb. In späteren Jahren war
sie bei Dunkelheit beleuchtet. Das ganze Winterhalbjahr war hier Betrieb
bis Sonne und Regen die Bahn unbrauchbar machten. Das Eislaufen war dann
für das Jahr beendet.
Nach dem 1. Weltkrieg war Deutsch-Eylau
wieder eine Garnisonsstadt, ein Teil des 100.000 Mann Heeres lag in
unseren Kasernen. Turnen und Sport wurde in diesen Einheiten groß
geschrieben. Neben dem VfB Fußballverein gab es auch einen
Männerturnverein, den MTV, der sehr stark war, außerdem war ein
Tennis- und Ruderclub vorhanden. Der Turnverein mit sehr vielen
Mitgliedern hatte eine Damenabteilung und Kanuabteilung, Handball und
Faustball wurden gespielt und Wassersport betrieben, vor allen Dingen
aber wurde geturnt.
Jeder Anwärter zum Unteroffizier musste vor
seiner Beförderung die Kippe am Reck oder Barren beherrschen. Ferner
musste er als Mutsprung am Langpferd eine Grätsche springen. Ich habe
als Turnwart so manchem Anwärter zum Unteroffizier verholfen. das hatte
zur Folge, dass viele Soldaten Mitglieder des Turnvereins blieben. Ich
nenne nur die Feldwebel Badorreck und Feldwebel Glampe, die reine
Spitzenturner an den Geräten wurden, aber auch mein ehemaliger Lehrling
Reinhold Templin, der später in der Kunstturnriege von Professor Diehm
in Berlin turnte.
Barrenturner
Für die Kanuabteilung gab es ein eigenes
Bootshaus auf dem Gelände des Vereinslokals Eberbeck am Eylenzfluss.
Die Schwimmabteilung wurde vom Architekten Bruno Zielinski, der beim
Stadtbauamt tätig war, geleitet. Hier wurde besonders das
Wasserballspiel gepflegt und mit der Garnison mancher Wettkampf
ausgetragen. Zielinski wurde leider in seiner Heimatstadt Köngisberg
durch einen betrunkenen Radfahrer totgefahren. Er war ein junger
hochbegabter Architekt. Die Abteilung Schwimmen hatte mit seinem Tod
ihren Höhepunkt überschritten.
Bootshaus des Turnvereins am Eylenzfluss
Die Garnison hatte ihre eigenen
Paddel- Kanu- und Segelboote, ebenfalls Eissegelschlitten, und stellte
in den späteren Jahren die Europameister. Es waren dies Oberfeldwebel
Poppeck und Hauptmann Tribukeit. Die Garnison hatte auch am Geserichsee
ein Wochenendhaus, die Preußenhütte. Es war ein ausgedienter
D-Zugwagen, der mit Betten und Kochgelegenheit ausgerüstet war. Am
Wochenende wurde diese Unterkunft viel besucht. Hier verbrachten auch
Soldaten, die kein zu Hause hatten, ihre Urlaubstage. Gelegenheiten zum
Baden, Angeln und Bootfahren waren vorhanden. Zwischen Garnison und
Turnverein bestand eine enge Verbindung. Wir konnten, wenn Plätze frei
waren, einige Tage Unterkunft finden.
Kirmesfest des Rudervereins Dt.-Eylau im "Krug zum krummen
Paddel" (C. Mühleisen)
Meine Gedanken gehen immer
wieder zurück zur alten Heimat mit den vielen Wäldern, Seen, Burgen
und Schlössern sowie großen Gütern, den Städten Deutsch-Eylau,
Rosenberg, Riesenburg, Freystadt und Bischofswerder. Die ältere
Generation stirbt aus. Nur wenige sind übrig geblieben, um der
jüngeren Generation das Bild der alten Heimat zu vermitteln. Nur wenige
haben die Gelegenheit gehabt, sie wiederzusehen. Doch dort hat sich
vieles verändert. Westpreußen gehört heute zu Polen. Dort ist eine
neue Generation geboren und betrachtet dieses Land als ihr Heimatland.
Sie haben viel aufgebaut, zum Teil in historischer Gestalt mit großen
Kosten. Den Krieg haben wir verloren und gewiss nicht ohne unsere
Schuld. Nur Verständigung nach allen Seiten kann uns die Heimat näher
bringen.
Dies waren die Gedanken meines alten Lehrmeisters.
Text
und Zeichnungen: Gerhard Templin Ansichtskarte: Christa Mühleisen
Copyright: Gerhard Templin und
Christa Mühleisen |