Rund um die Martinsgans

von Gerhard Templin

Bearbeitung C. Mühleisen

Herkömmlich heißt der 11. November Martini oder Martinstag. Um Martini muss die Wintersaat bestellt sein. - Auch die Hausfrau hat die letzten Herbstfrüchte aus Wald und Garten eingelagert und für die kalte Jahreszeit verarbeitet und dauerhaft konserviert. So bildet der Martinstag den natürlichen Abschluss des bäuerlichen Wirtschaftsjahres. Auf dem Lande begannen die Pachtfristen, Abrechnungen und auch die Dienstverhältnisse, aber auch auf den Höfen die Personalwechsel. So sah man lange Leiterwagen mit dem ganzen Hab und Gut, sowie mit einer großen Kinderschar zu einem neuen Arbeitgeber umziehen. Aber auch Knechte und Mägde feierten am 11. 11. ihren Einstand oder Abschied. Anlässlich des Umzugstages spielte die Martinsgans eine große Rolle. Auch das Gesinde erhält seinen Anteil beim Verspeisen des knusprig braun gebratenen Gänsevogels. Dass er nicht nur wohlschmeckend, sondern auch heilkräftig ist, bekam ich schon in meiner Kinderzeit zu hören. Beim Festmahl bei meinem Großvater wurde ich aufgeklärt, welche Voraussagen sich treffen lassen, wenn an bestimmte Knochenteile der verputzten Gans gegen das Licht hält. Das säuberlich abgenagte Brustbein vom Gänsebraten gilt gewissermaßen als Wetterprophet für die kommenden Monate. So heißt es: "Ist das Brustbein braun, so wirst im Winter viel Kälte zu schaun, ist es aber weiß, so bringt der Winter viel Schnee und Eis." So gibt es noch alte Bauernregeln: "Bringt Sankt Martin Sonnenschein, tritt ein kalter Winter ein."

Ursprünglich war die Gans Symbol oder Opfertier des germanischen Göttervaters Wotan gewesen. Das ihm zu Ehren dargebrachte Gänseopfer soll den Beschützer von Acker und Vieh wohlwollend stimmen. Mit der Tötung eines Haustieres verbindet sich immer die Vorstellung des Überwindens von drohendem eigenem Missgeschick und Unglück.

Eine Fülle von Legenden rankt sich um den Namen Martin. Am bekanntesten ist diejenige von der Mantelteilung: Als der reitende Heilige einem fast nackten Bettler begegnet, durchtrennt jener mit einem Schwertstreich spontan den eigenen Mantel, um die Hälfte dem frierenden Armen zu schenken. Dieser legendäre Mantel (lateinisch "capa") diente als Sieg verheißendes Feldzeichen im Kampf. Der Aufbewahrungsort der Mantel-Reliquie hieß entsprechend "capelle" und bezeichnet noch jetzt jede kleine Kirche als Kapelle.

Ein umfangreiches Schrifttum befasst sich mit dem Leben des Martin. Er soll danach 316 in Pannonien (Ungarn) als Sohn eines römischen Offiziers geboren worden sein. Der 15-jährige gelangt mit den Kriegszügen der Römer nach Frankreich. Hier dient der junge Offizier dem späteren Kaiser Julianus. Mit 18 Jahren lässt sich der Legionär taufen und verlässt seine Truppe, und widmet sein Leben der Heidenbekehrung und gründet auch die erste Klostergemeinschaft des Abendlandes. Historisch verbrieft ist, dass er die berühmte Abtei Marmoutier errichtet und etwa um 400 als Bischof von Tours stirbt. Sein Begräbnisdatum, der 11. 11. gilt seither als Namens- und Festtag.



Martin Bischof von Tours (G. Templin)

Wie ist nun der populäre  Heilige zur Beziehung zur Gans gekommen? Martin war schon in jungen Jahren für das Bischofsamt vorgesehen; aber aus Bescheidenheit scheute er sich, die Würde anzunehmen. Daher verbarg er sich heimlich in einem Gänsestall. Aber das laute Geschnatter der Gänse verriet die Anwesenheit des Gastes, so dass er sich der Bischofswahl nicht entziehen konnte. Zur Strafe für den unerwünschten "Verrat"  ließ der neu eingesetzte Bischof von Tours die vorwitzigen Vögel schlachten und als leckeren Gänsebraten auftischen. Dies Geschehen wird als Ursprung des Brauches angesehen, dass Christen seitdem Martinsgänse zu essen pflegen.

In überwiegend protestantischen Gebieten Deutschlands werden Martinslieder und entsprechende Gebräuche oft auf Martin Luther und nicht auf den katholischen Schutzheiligen bezogen. Die Erklärung dafür beruht auf der Tatsache, dass der spätere Reformator Luther seinen Vornamen einen Tag nach der Geburt, am Martinstage erhält (nämlich am 11. 11. 1483).



 Martinstag (G. Templin)

Zur Erinnerung an den mildtätigen großherzigen Reiter als Symbol praktizierender Nächstenliebe und Barmherzigkeit feiern die Kinder überall in Deutschland Sankt Martin am Vorabend des Martinstages mit einem Fackelzug. Die Kinder folgen dabei mit Lampions und selbstgebastelten Laternen, die auch schon mit vorweihnachtlichen Symbolen geschmückt sein können. Sankt Martin, der Legende entsprechend hoch zu Ross, führt die Schar in der Gestalt eines römischen Legionärssoldaten an.



 Laternenumzug am Martinstag (G. Templin)

Die Kinder singen das Lied: Laterne, Laterne, Sonne, Mond und Sterne, brenne auf, mein Licht usw. Es gibt aber noch ein anderes Lied:

Sankt Martin ritt durch Schnee und Wind,
sein Ross das trug in fort geschwind.
Sankt Martin ritt mit leichtem Mut,
sein Mantel deckt ihn warm und gut.

Im Schnee da saß ein armer Mann,
hatt' Kleider nicht, hatt' Lumpen an.
"O helft mir doch in meiner Not!
sonst ist der bittre Frost mein Tod!"

Sankt Martin zog die Zügel an,
sein Ross stand still beim armen Mann,
Sankt Martin mit dem Schwerte teilt'
den warmen Mantel unverweilt.

Sankt Martin gab den halben still,
der Bettler rasch ihm danken will.
Sankt Martin aber ritt in Eil'
hinweg mit seinem Mantelteil.


Das Nutzungsrecht der Urheberrechte an den Bildern und Aufzeichnungen von Herrn Gerhard Templin wurde an Frau Christa Mühleisen übertragen.