Erinnerungen aus meiner Schulzeit

"Herr Lehrer, ich muss mal"

von Gerhard Templin


Bearbeitung C. Mühleisen


Wir schreiben das Jahr 1939, und ich ging noch zur Schule. Einige Lehrer waren schon bei der Wehrmacht und zum Unglück fiel noch eine Lehrerin wegen Krankheit aus, die sich vier Wochen hinzog. Eines Tages musste ich zum Herrn Rektor. Er fragte, ob ich eine Mädchenklasse (1. Schuljahr) für einige Zeit beaufsichtigen könnte. Er ging mit mir zu dieser Klasse. Da saßen sie nun, ca. 45 kleine, junge Mädchen, 6 bis 7 Jahre jung, in ihren hübschen Kleidchen. Einige hatten Zöpfe mit bunten Schleifen. Es herrschte eine Stille, als der Rektor den Kindern erklärte, dass ihre Lehrerin, die sehr streng war, einige Zeit ausfällt und ich die Klasse beaufsichtigen soll. Mir rutschte vor Angst das Herz in die Hose. Ich wusste nicht, was ich erleben werde. Jeden Tag erhielt ich einen Plan, was ich den Kindern beibringen soll. Der Rektor blieb noch eine Stunde und dann wünschte er mir alles Gute. Kaum war er hinausgegangen, da meldete sich das erste kleine "Fräulein": "Herr Lehrer, ich muss mal".

Ich ließ sie gehen. Sie kam auch bald zurück. Da meldete sich die nächste "Dame": "Ich muss auch mal". Als die Stunde vorüber war, war die Hälfte der Klasse auf der Toilette gewesen. Ich erklärte nun den jungen Damen, dass dafür die Pause wäre. Sie nahmen die Belehrung an und am nächsten Tag waren es nur einige Mussmal-Mädchen.

So allmählich machte mir die Sache Spaß. Sie kamen pünktlich zur Schule und jeden Tag hübscher angezogen, als ob sie wetteiferten. Es herrschte Stille beim Unterricht und die Beteiligung war sehr rege. Trotzdem war ich froh, wenn die drei Stunden vorbei waren. Wenn ich in die Klasse kam, sangen sie zuerst ein Liedchen, diese hatte ihnen die Lehrerin beigebracht, u. a. "Die Tiroler sind lustig" und viele andere Kinderlieder.



Beim Unterricht (G. Templin)

Die jungen Damen erzählten ihre Erlebnisse in der Schule ihren Eltern, und so kamen nach und nach die Muttis, um sich den "Lehrer" anzusehen.

Eines Tages wollten sie auch ein Märchen hören. Ich erzählte ihnen von den "sieben Geißlein", "Frau Holle" und viele andere Märchen. Damit hatte ich einen Fehler gemacht. Nun wollten sie jeden Tag ein Märchen hören. Sie saßen dann da mit offenem Mund und dann kamen die Fragen. Ich musste sehr oft schwindeln, was auch immer klappte.

Eines Tages stritten sich zwei Schülerinnen. Sie zeigten sich die Zunge und rissen sich an den Haaren. Ich stellte jede in eine Ecke für fünf Minuten und dann vertrugen sie sich und waren wieder die besten Freundinnen.



Auf dem Schulhof (G. Templin)

Da die Schülerinnen auch Bewegung brauchten, machten wir auf dem Schulhof Ballspiele, dabei verletzte sich eine Kleine am Knie. Es war eine belanglose Hautabschürfung ohne Blut. Der Rektor sah das weinende Mädchen und kam mit einer Mullbinde. Er sagte zu mir: "Du bis doch im Jungvolk und musst Verbände machen können". Ich wickelte die ganze Binde um das Knie. Am nächsten Tag kam sie ohne Verband.



Ballspiele auf dem Schulhof (G. Templin)

Eines Tages hatte eine Kleine ihre Tafel vergessen, denn damals wurde noch im ersten Schuljahr auf Tafeln mit Griffeln geschrieben. Sie weinte bitterlich. Ich gab ihr dann ein Stück Schulkreide und sie durfte auf der großen Tafel schreiben. Am nächsten Tag brachte sie mir als Dankeschön einen kleine Blumenstrauß. Nach der Druckschrift wurde Sütterlin geschrieben.



"Sütterlin Westpreußen"

Von meinen Klassenkameraden wurde ich allmählich gehänselt. Wenn die kleinen Damen von der Pause in die Klasse kamen, gingen sie ganz brav zu zweit, und wenn der Unterricht beendet war, gaben sie mir ihre Hand, machten einen Knicks und sagten: "Auf Wiedersehen Herr Lehrer". Das waren damals noch Zeiten. Selbst auf der Straße grüßten sie mit: "Guten Tag, Herr Lehrer". Meine Mutter hat sich darüber köstlich amüsiert.



Auf dem Weg nach Hause (G. Templin)

Als nach vier Wochen die Lehrerin gesund zurück kam, sagte sie zu mir: "Was macht meine Rasselbande?" Ich antwortete: "Sie waren alle recht brav". Damit war mein kleiner Ausflug beendet. Aber noch nicht ganz. Als ich im letzten Jahr zum Heimattreffen in Deutsch Eylau war, kam eine Frau zu mir und stellte sich vor. "Ich bin das kleine Mädchen mit dem weißen Pelzmäntelchen, das sie in der Mädchenklasse von Fräulein Klar 1939 unterrichtet haben". Sie kam jeden Tag an unserem Haus vorbei und ist heute auch schon 75 Jahre alt.

Es war ein frohes Wiedersehen.


Das Nutzungsrecht der Urheberrechte an den Bildern und Aufzeichnungen von Herrn Gerhard Templin wurde an Frau Christa Mühleisen übertragen.