Ursels erste Küsse

Gerhard Templin

Bearbeitung C. Mühleisen

Sie hatte zwar die teils klassischen Namen Dorothea, Felicitas, Ursula, wurde aber allgemein Ursel genannt. Sie war im April 16 geworden, war nicht ganz schlank, aber ganz hübsch, noch mehr schlenkerhaft in den Bewegungen, als graziös und in der Schule öfter nicht ganz fleißig. Auch ein bisschen kess, wie sich das so in dem Alter gehört, so dass Frl. K., die nette Deutschlehrerin manchmal den Kopf schüttelte über so viel Fleiß und Weisheit und mit Behagen wieder eine dicke 4 ins Notizbuch schrieb, wozu sie eisig bemerkte: "Meine liebe Ursel, du hast also wieder einmal nicht gearbeitet. Mach nur weiter so, die ganze Klasse ist eine typische Sekundanerklasse."

Es war empörend, fanden Ursel, Gerda, Leni, Gerlind, Annemarie, Christel und die Ruths. Sie waren so empört, dass sie sogar vergaßen, über die süßen Schauspieler, die fabelhaften und interessanten, zu schwärmen. Waren sie kleine Rotzgören? Sie waren geplagte Oberschülerinnen und keine Rotzgören. Also empörten sich diese jungen Damen die ganze Pause auf dem Schulhof mit rollenden Augen und zornig zusammengebissenen, schon recht neugierigen Lippen. Auch Urselchen hatte schon recht neugierige Lippen. Das kam zwar nicht von der Beschäftigung mit den Hausaufgaben, aber doch von der Lektüre manchen pikanten Buches, das so zwischen altem Kram versteckt war, und weiß Gott woher stammen mochte.

Und warum sollte Ursel nicht schon neugierige Lippen haben, bitte warum nicht? Sie musste doch, wenn sie nun bald ins ernste Leben trat, wenigstens wissen, wie es mit einem Kuss bestellt war. Natürlich wusste sie das teils. Sie hatte einige Tanten, die oft zu Besuch kamen und sie immer richtig beküssten, jawohl! Aber dies, Verzeihung, Gelecke meinte Ursel natürlich nicht, sondern sie wollte eben einen Kuss von einem männlichen Wesen haben. Es brauchte ja nicht gerade Willy Fritsch zu sein.

Die Stadt Deutsch Eylau war nun mit einer großen Menge niedlicher, hübscher Mädchen gesegnet, die alle im Stillen nach solchen männlichen Wesen verlangten und ihre Sehnsucht abends auf dem Bummel spazieren führten. Nein, wählerisch durfte man nicht sein, wie auch Ursel erkannte. Man musste froh sein, dass man eine halbwegs netten Jungen irgendwie zu fassen bekam. Und Ursel bekam ihn zu fassen. Er hieß Hans Henning und war gleichfalls Sekundaner. Sein Vater war hierher versetzt worden und zog in ihres Onkels Haus. Na, und als Ursel wieder einmal, häufiger als sonst den Onkel besuchte, war dieser Hans Henning zufällig im Garten und so kam der Stein ins Rollen. Im Ganzen war er ein guter Junge, was sie bald erkannte, und so war sie froh, dass ihre Sehnsucht nun ein wenig gestillt war.

Leider begriff Hans Henning gar nicht so recht, wie es im Innern der Ursel aussah. Wenn er sie traf, erzählte er von seinen selbstgefertigten Apparaten, auch von seinen Kaninchen oder von langweiliger Privatlektüre und ähnlichen Scherzen, was zwar Ursel mit geheucheltem Interesse über sich ergehen ließ, wobei sie aber doch immer wieder auf einen anderen Ton, auf etwas Warmes, Zartes, Liebes wartete. Das ging doch im Kino alles ganz anders! Dieser doofe Hans Henning. Wenn er sie mal auf dem Bummel traf, gingen sie ein Stück zusammen, leider niemals sehr weit, denn Hans mochte diesen Bummel nicht leiden.

Es war schrecklich! Was sollte sie mit ihm bloß anfangen. Sie konnte ihm doch nicht einfach sagen, er solle sie einmal küssen. Nein, das konnte sie nicht. "Hans Henning", sagte sie schließlich an einem Freitag zu ihm "möchtest du nicht mal mit ins Kino gehen? Es gibt jetzt ein ganz wunderbares Stück! Bitte komm doch mal mit, ich würde mich sehr freuen! Es kostet nur 50 Pfennige! Wenn du kein Geld hast, dann bezahl ich für dich, ja?" Hans Henning erklärte gedehnt, daß er sich nicht viel aus dem Kintopp mache, er habe auch zur Zeit kein Geld, weil er sich einen Radioapparat zusammenbaue. "Das schadet doch nichts, dann bezahle ich für dich, ich bezahle ganz gern für dich, lieber Hans Henning!" "Lieber Hans Henning", sagte sie ganz leise, aber er merkte nichts, war im übrigen aber doch einverstanden. Und Ursel verbrachte eine fast schlaflose Nacht.

Sie hatte sich am nächsten Nachmittag extra schön gemacht und duftete von der Ferne nach Tosca. So dass Hans Henning sogar bemerkte: "Du riechst aber schön heute!" Endlich stieg der Film. Es war ein rührender Kitsch von Liebe, Musik und vielen Küssen, wobei Ursel einmal leise aufseufzte, Hans Henning schien indes müde zu sein. Einmal aber, als Ursel ihren Arm an den seinen drückte und "schön" schluchzte, gab er sich doch einen Ruck und bejahte. Er zog dann auch gleich ein Päckchen aus der Brusttasche und sagte: "Ich hab' hier ein bisschen Schokolade, sie ist leider ganz aufgeweicht, aber die Nüsse sind noch ganz." Ursel dankte mit verträumtem Blick. Erst unterwegs konnte Ursel ihm den Gefallen tun, von dieser unförmigen Masse etwas abzureißen, und obwohl das braune Zeug noch warm war, lutschte sie, noch immer mit seligen Augen, an den garantiert ganzen Nüssen herum.

Er hat die Schokolade an seinem warmen Herzen gehabt, sagte sich Ursel immer wieder. Sie war still und ging so, dass ihr Arm Hans Henning berührte. Dem schien diese Stille unheimlich zu werden, und er fing von neuem wie ein Techniker zu sprechen an. Ursel fieberte, oh, war das ein Idiot! Aber dann nahm sie sich wieder zusammen, dachte an die Küsserei auf der Leinwand und hoffte weiter. Ja, sie hoffte sogar auf den heutigen Abend. Sie wollte in den Garten gehen, denn die Eltern waren nicht zu Hause, und Hans Henning würde dann kommen, und sie würde ihn dann das Küssen lehren, dem schrecklichen Tolpatsch.

Und Hans Henning kam tatsächlich zu Ursel in den Garten. Er schien froh und freudig. "Weißt', Ursel, ich esse so furchtbar gern Hering mit Sahne und Zwiebeln. Wir haben heute zu Abend welche gehabt, die haben vielleicht geschmeckt. Isst du auch gerne Zwiebeln?" Sie war platt. Sie konnte zuerst nichts herausbringen. Dann hätte sie ihn am liebsten ohrfeigen können. Sie beherrschte sich aber und verneinte. Der Hans Henning hat dann noch zwei Stunden über Elektrizität und Kaninchen geredet. Endlich hat dann die Ursel Hans Hennings Kopf genommen und ihm einen Kuss aufgedrückt. Es ging zuerst etwas schief, aber beim zweiten Mal gings besser und beim dritten Mal bedeutend besser. Wozu Hans Henning endlich bemerkte: "Du ich habe doch eigentlich Hering und Zwiebel gegessen." Aber sie schluchzte nur: "Das, das macht doch nichts, lieber Hans Henning, das macht doch nichts!" Das waren Ursels erste Küsse.



Ursel und Hans (G. Templin)

Ihre Klassenkameradinnen wollten am nächsten Tag alles genau wissen. Sie sagte, es wäre sehr schön gewesen, jedoch taten ihr heute alle Zähne weh.

Da es sich um eine fast wahre Geschichte handelt, wurden die Namen geändert.


Das Nutzungsrecht der Urheberrechte an den Bildern und Aufzeichnungen von Herrn Gerhard Templin wurde an Frau Christa Mühleisen übertragen.