Wie der Weihnachtsbaum in die Welt kam

von Gerhard Templin

Bearbeitung C. Mühleisen


Das Christkindchen ließ den Arm des Weihnachtsmannes los, stieß den Alten an, zeigte auf die Tanne und sagte: "Ist das nicht wunderhübsch?" "Ja," sagte der Alte, "aber was hilft mir das?" "Gib ein paar Äpfel her", sagte das Christkindchen, "ich habe da einen Gedanken."

Der Weihnachtsmann machte ein dummes Gesicht, denn er konnte sich nicht recht vorstellen, dass das Christkind bei der Kälte Appetit auf die eiskalten Äpfel hatte. Er hatte zwar noch einen guten alten Schnaps, aber den mochte der dem Christkindchen nicht anbieten.

Er machte sein Tragband ab, stellte seine riesige Kiepe in den Schnee, kramte darin herum und langte ein paar recht schöne Äpfel heraus. Dann fasste er in die Tasche, holte sein Messer heraus, wetzte es an einem Buchenstamm und reichte es dem Christkindchen. "Sieh, wie schlau du bist," sagte das Christkindchen. "Nun schneid mal etwas Bindfaden in zwei fingerlange Stücke, und mach mir kleine Pflöckchen."

Dem Alten kam das alles etwas ulkig vor, aber er sagte nichts und tat, was das Christkind ihm sagte. Als er die Bindfäden und die Pflöckchen fertig hatte, nahm das Christkind einen Apfel und steckte ein Pflöckchen hinein, band den Faden daran und hängte den an einen Ast.

"So", sagte es dann, "nun müssen auch an die anderen welche, und dabei kannst du helfen, aber vorsicht, dass kein Schnee abfällt!"

Der Alte half, obgleich er nicht wusste, warum. Aber es machte ihm sichtlich Spaß, und als die ganze kleine Tanne voll von rotbackigen Äpfeln hing, da trat er fünf Schritte zurück, lachte und sagte: "Kiek, wie niedlich das aussieht! Aber was hat das alles firn Zweck?"

Braucht denn alles gleich einen Zweck haben?" lachte das Christkind. "Pass auf, das wird noch schöner. Nun gib mal die Nüsse her!"

Der Alte krabbelte aus seiner Kiepe Walnüsse heraus und gab sie dem Christkindchen. Das steckte in jedes ein Hölzchen, machte einen Faden daran, rieb immer eine Nuss an der goldenen Oberseite seiner Flügel, dann war die Nuss golden und die nächste an der Unterseite seiner Flügel, dann hatte es eine silberne Nuss und hängte sie zwischen die Äpfel.

"Was sagst du nun, Alterchen?" fragte es dann. "Ist das nicht allerliebst?" "Ja," sagte er, "aber ich weiß immer noch nicht..." "Komm schon, sagte das Christkindchen. "Hast du Lichter?" "Lichter nicht, aber 'nen Wachsstock."

"Das ist fein", sagte das Christkind, nahm den Wachsstock, zerschnitt ihn und drehte erst ein Stück um den Mitteltrieb des Bäumchens und die anderen Stücke um die Zweigenden, bog sie hübsch gerade und sagte dann: "Feuerzeug hast du doch?" 

"Gewiss," sagte der Alte, holte Stein, Stahl und Schwammdose heraus, pinkte Feuer aus dem Stein, ließ den Zunder in der Schwammdose zum Glimmen kommen und steckte ein paar Schwefelspäne an. Die gab er dem Christkindchen. Das steckte damit erst das oberste Licht an, dann das nächste davon rechts, dann das gegenüberliegende. Da stand nun das Bäumchen im Schnee; aus seinem halbverschneiten, dunklen Gezweig sahen die roten Backen der Äpfel, die Gold- und Silbernüsse blitzten und funkelten, und die Wachskerzen brannten feierlich. Das Christkindchen lachte über das ganze rosige Gesicht und klatschte in die Hände, der alte Weihnachtsmann sah gar nicht mehr so brummig aus, und der kleine weiße Spitz sprang hin und her und bellte.




Weihnachtsmann und Christkind schmücken den ersten Weihnachtsbaum
(G. Templin)

Als die Lichter ein wenig heruntergebrannt war, wehte das Christkindchen mit seinen gold-silbernen Flügeln, da gingen die Lichter aus. Es sagte dem Weihnachtsmann, er solle das Bäumchen vorsichtig absägen. Das tat er, und dann gingen beide den Berg hinab und nahmen das Bäumchen mit.

Als sie in den Ort kamen, schlief schon alles. Beim kleinsten Haus machten die beiden halt. Das Christkind machte die Tür leise auf und trat ein; der Weihnachtsmann ging hinterher. In der Stube stand ein dreibeiniger Schemel mit einer durchlochten Platte, den stellten sie auf den Tisch und steckten den Baum hinein. Der Weihnachtsmann legte noch allerhand schöne Dinge, Spielzeug, Kuchen, Äpfel und Nüsse unter den Baum, dann verließen sie beide das Haus so leise, wie sie es betreten hatten.

Als der Mann, dem das Häuschen gehörte, am anderen Morgen erwachte und den bunten Baum sah, da staunte er und wusste nicht, was er dazu sagen sollten. Als er aber an dem Türpfosten, den das Christkind mit seinem Flügel gestreift hatte, Gold und Silberflimmer hängen sah, da wusste er Bescheid. Er steckte die Lichter an dem Bäumchen an und weckte Frau und Kinder. Das war eine Freude in dem kleinen Haus wie an keinem Weihnachtstag. Keines der Kinder sah nach dem Spielzeug, nach Kuchen und Äpfeln. Sie sahen alle nur den Lichterbaum.

Die anderen Leute, die das sahen, machten das nach, jeder holte sich einen Tannenbaum und putzte ihn an. Als es dann Abend wurde, leuchtete im ganzen Dorf, Haus bei Haus ein Weihnachtsbaum, überall hörte man Weihnachtslieder und das Jubeln und Lachen der Kinder. Von da aus ist der Weihnachtsbaum über ganz Deutschland gewandert und von da über die ganze Erde. Weil aber der erste am Morgen brannte, wird in manchen Gegenden Kindern morgens beschert.

Dieses war eine Geschichte von Hermann Löns, unserem Landsmann.

Das Nutzungsrecht der Urheberrechte an den Bildern und Aufzeichnungen von Herrn Gerhard Templin wurde an Frau Christa Mühleisen übertragen.