Ein Ausflug in die Vergangenheit

Gerhard Templin


Bearbeitung: C. Mühleisen

Es war im Sommer 1992, als ich wieder einmal die alte Heimat besuchte. Es war herrlicher Sonnenschein, als wir mit drei Personen einen PKW bestiegen und gen Schwalgendorf fuhren. Wir hatten eine Verabredung mit dem deutschsprachigen Förster, der mit uns einige Waldstücke durchstreifen wollte. Schön ist unser Kreis Rosenberg zu allen Zeiten des Jahres. Im Frühling, wenn das Grün der Buchen leuchtet und die Schleier der Birken wehen, wenn die Schnepfe zieht und die ersten Jungvögel jauchzen; im Sommer, wenn der Wald seine Früchte bietet, wenn Bussard, Milan und Adler ihre Kreise ziehen; im Herbst, wenn die hohe Zeit für den Rothirsch anbricht; im Winter, wenn die schwerbeladenen Waldwiesen funkeln  und glitzern, wenn in der Zeit der schweren Not das Wild den Kampf ums Sein kämpft. Man sieht die mächtigen Tannen, die wie Säulengänge dastehen. Alte Eichen, schlanke Buchen mit ihren silberfarbenen Stämmen und mächtige Linden stehen beieinander. An lichteren Stellen wuchern üppig Himbeere, Brombeere und Heidelbeere.

Und nun lieber Leser, sei in Gedanken mein Gast in dem Waldstück um Schwalgendorf. Der Förster erwartet uns schon. Wir fahren vorbei am "Weißen Mann", der zurzeit nur aus einem Gerippe besteht, aber heute soll wieder ein neuer geschnitzt sein (Original vor dem Krieg liegt bei). Es ist ein Wegweiser und steht an einer Kreuzung.



Der weiße Mann

Bald sind wir an der Stelle des versunkenen Dorfes Zollnick. Die Sonne hat schon den Tau von den Gräsern gezogen, aber es liegt noch leichter Dunst über dem See, der Tiefer See heißt. Er ist schon ziemlich verkrautet. Bis zum Kriegsende standen hier noch zwei Häuser. Zuerst war es das Gutshaus, dann Försterhaus, dann Jugendherberge und zuletzt Schullandheim für die Oberschule für Mädchen in Deutsch Eylau. Jetzt hat man an der rechten Seite ein neues Haus gebaut. Von dem einst reichen Dorf sieht man heute nur Hügel, wo die Häuser standen und diese sind mit Gras oder Büschen überwachsen.



Die Jugendherberge von Zollnick 1932

Wir wollen noch viel über den Ort und seine Seen wissen. Wo waren die Ackerbreiten des Gutes, wo standen die Wirtschaftsgebäude? Von allem war keine Spur. Aber der Förster erzählte uns: Der letzte Besitzer hieß Christian Korn (Rittergutsbesitzer). Er war Herr über 3000 Morgen Acker und Wald, über zwanzig Arbeiterfamilien, eine Schneidemühle, eine Mahlmühle und sogar über eine Glasbläserei. Er hat weder Lesen noch Schreiben können. Für seine Buchführung hatte er eigene Zeichen und verließ sich im Übrigen auf seinen Kopf und seinen Schreiber. Um seinen Kopf scheint es nicht übel bestellt gewesen zu sein, dann das Unternehmen wuchs und gedieh. Und was gab es nicht alles zu bedenken!



  Zollnick (G. Templin). Der Wege führte am Tiefen See vorbei zum Gut Januschau.




Der Tiefe See von Zollnick (G. Templin)

Da war die Glasbläserei, deren Erzeugnisse bis nach Elbing und Königsberg rollten. Vier Fuhrwerke dienten allein dem Transport der Glaswaren. Und viele Fuhrwerke waren notwendig, um Sand und Holz zur Glasherstellung heranzuschaffen. Viele Kleinbauern aus dem großen Dorf Schwalgendorf standen mit ihren Fuhrwerken bei ihm in Lohn und Brot. Das Holz kaufte er in den Staatsforsten, weil es dort billig war und er dann seinen eigenen Wald schonen konnte. Er rechnete genau, lenkte den großen Betrieb mit viel Umsicht und trug die Verantwortung für weit mehr Familien, als bei ihm im Dorf wohnten. Die Glasbläser waren seine Sorgenkinder. Sie waren ein wildes Volk. Das Gasthaus stand neben ihren Wohnungen, und sie hatten es nicht weit, ein wüstes Leben zu führen. Das Wildern war damals an der Tagesordnung. Es knallte reichlich viel und man kannte schier keine Reviergrenzen.

Was wusste der Förster nicht alles zu erzählen, und es entstand ein lebendiges Bild von dem vergangenen Gemeinwesen vor uns mit seinen Menschen, ihren Schwächen und ihrem Streben. Da stand im Mittelpunkt immer wieder der Gutsherr Christian Korn, der es zu großen Wohlstand gebracht hatte, der noch zwei Güter dazu gekauft, im Ganzen mehrere tausend Morgen und der alles bewirtschaftete, trotzdem er weder lesen noch schreiben konnte. Wir gingen an den Stätten vorbei, die damals bebaut gewesen sind: Hier stand die Glasbläserei, dort der Glasspeicher, hier ein Arbeiterhaus neben dem anderen, dort die Schule und endlich am See das Wirtshaus und das Haus der Glasbläser. Hier bildeten die verschütteten Fundamente noch hohe Buckel im Boden. Wessen Einbildungskraft wäre da nicht aufgelebt und hätte nicht versucht, das Dorf wieder erstehen zu lassen und es mit seinen Menschen zu beleben? Und gar hier am Ende des Dorfes, schon am See bei den Fundamenthöckern in der Grasnarbe, wo es jetzt am stillsten und einsamsten war, da ist es damals am lautesten zugegangen. Wir blieben stehen und sannen dem Vergangenen nach. Warum war es vergangen? Warum ist dieses Dorf verschollen? Wie konnte es so gänzlich absterben mit seinen Häusern und seiner Fabrik?

Wohl war der Wohlstand des Gutsherrn weiter gediehen, da traten gewissenlose Geschäftsleute an ihn heran. Makler und Händel boten dem Herrn über dieses Dorf ein großes Gut mit einer Schneidemühle zum Kauf an. Sie überredeten ihn zum Kauf, obwohl er die Kaufsumme nicht im Entferntesten flüssig hatte und es gegen seinen Grundsatz war, auf Wechsel zu kaufen. Aber die Zwischenhändler schossen das Kaufgeld vor und so konnten sie endlich an diesen so fest fundierten Wohlstand heran, ihm den Puls zu öffnen, damit Hab und Gut dieses Mannes in ihre Taschen flossen.

Nun ließen sie ihn Wechsel auf Wechsel unterschreiben, um das Vermögen mit einem Schein des Rechts an sich zu bringen. Dem Niedergang waren nun Tür und Tor geöffnet. Für das Dorf und den Herrn begann eine schlimme Zeit. Das Gericht schickte einen Vollstrecker. Und es geschah wohl, dass die Knechte mit hohen Wagen voll Getreide zur Stadt fuhren, dass sie aber zu Fuß, nur mit der Peitsche in der Hand zurückkehrten, weil Pferde, Wagen und Ladungen in der Stadt gepfändet worden waren. Endlich brach der völlige Konkurs herein. Der Gutsherr ließ einige Werte zu seinen Freunden schaffen, hierhin einige Schweine und Kühe, dorthin Getreide und an das Ufer des Geserichsees recht viel Holz.

Aber sein eigener Wirtschafter und Gutschmied verriet ihn an seine Gläubiger und so verfiel der Gutsherr nicht dem Bankrott, sondern er wanderte wegen Konkursvergehens auch in das Gefängnis. Die Gläubiger erwarben das Gut aus der Konkursmasse für ein Spottgeld. Sie zahlten eine Mark für den Morgen! Sie stellten die Glasherstellung ein, bauten an die Stelle eine Schneidemühle, um aus dem Wald zu ernten, was sie nicht gesät und nicht gepflanzt hatten. Das ganze Objekt wanderte in die Hände einer zweiten Firma, dieses Mal zum Preise von 10 Mark je Morgen. Dann bot man das ganze Objekt den angrenzenden Gutsbesitzern zum Kauf an. Dann brach man das leere Schneidemühlengebäude ab. Schule und Gasthaus waren schon vorher dem Erdboden gleichgemacht worden und nun folgte ein Haus dem anderen. Der neue Besitzer forstete vielmehr die ganzen Ländereien auf. Von den Gebäuden blieben nur drei Häuser stehen: das Gutshaus, das dann die Försterei wurde, dann der Pferdestall des Gutes und endlich eins der Arbeiterhäuser, das als Waldarbeiterhaus und Jugendherberge gedient hatte. Nur die Ortstafel gab Kunde von dem einstigen Rittergut.

Als der Gutsherr aus dem Gefängnis entlassen wurde, besuchte er noch einmal sein "Gut" und war anschließend Schankwirt in einer ostpreußischen Gaststätte. Die Forstverwaltung hatte ihm diesen Unterschlupf gewährt.

Wir waren sprachlos, als wir diese wahre Geschichte hörten. Allmählich wurde es warm. Am See standen einige Fischreiher und warteten auf kleine Fischlein. Über dem See zogen einige Bussarde und Milane ihre Bahn.



Kranichnest in Zollnick (G. Templin)

Wir wollten aber noch zum Tromnitzsee und schlugen rechts den Weg ein. Auf der linken Seite des Weges lagen etliche schmiedeeiserne Grabkreuze, hier war der Friedhof des vergangenen Dorfes.



Der Waldfriedhof von Zollnick

Zwischen dem alten Dorf Zollnick und dem Tromnitzsee sind es ca. 1500 m. Kaum waren wir 100 m gegangen, zeigte uns der Förster ein Nest der Schwarzstörche.



Junge Schwarzstörche (G. Templin)

Die vier Jungen zogen sofort die Köpfe ein und legten sich flach hin. Das Nest war höchstens in 8 m Höhe zwischen einer Astgabel. Als wir 50 m vorbei waren, sah man wieder die Köpfe. Man hörte in der Ferne bereits das Geschrei der Fischreiher und Kormorane. Es war eine Kolonie von ca. 500 Gelegen. Früher bevölkerten sie die kleine Insel auf dem Tromnitzsee. Die Bäume sind aber durch den Kot der Vögel restlos vernichtet. Auf der gegenüberliegenden Insel hausen die Seeadler. Dort herrscht eine große Stille. Ab und zu sieht man einen Adler die Insel anfliegen.

Auf unserem Nachhauseweg sahen wir noch einen Schreiadler, der in ca. 2 m von uns auf einem Ast saß und dann plötzlich in den Busch sprang. Es war für uns ein erlebnisreicher Tag.

Über den Schreiadler möchte ich noch einige Zeilen schreiben.



Schreiadler (G. Templin)

Sein Blick ist sehr streng. Er ist so undurchdringlich, dass man meinen könnte, ein solches Wesen ließe sich nichts vormachen, keine Verschleierung und Verdrehung von Tatsachen. Seid konsequent und klar, verliert das Ziel nicht aus den Augen. Kraft und Haltung strahlt aus diesem kühnen Adlerauge.

Diese Adlerhorste traf man an verschiedenen Stellen unseres Heimatkreises an. So an der Chaussee Deutsch Eylau-Rosenberg, am Gaudensee und vor allen Dingen auf einer Wiese am Buchtengraben und auf dem Gelände des versunkenen Dorfes "Zollnick". Dort hörte man überall sein "Kjück". Er zieht meistens nur ein Junges auf. In den meisten Fällen wird das Zweitgeborenen getötet und aus dem Nest geworfen. Die Nester sind leicht zu finden, denn er macht seinem Namen alle Ehre. Kein Adler ruft so viel, wie er und keiner kann so hoch fliegen, wie er. Er ist dunkelbraun und wird ca. 80 cm groß. Meistens fliegen diese Adler zu Zweien und kreisen an heißen Sommertagen ohne einen Flügelschlag. Dunkle, wie ein Band gleichmäßige Schwingen haben in der Mitte des Buges einen leichten Knick. Die Schwungfedern waren wie Finger gespreizt.


Quellennachweis: Schreiadler von Georg Hoffmann

Das Nutzungsrecht der Urheberrechte an den Bildern und Aufzeichnungen von Herrn Gerhard Templin wurde an Frau Christa Mühleisen übertragen.